Rudolf Brazda (* 26. Juni 1913 in Brossen, Krs. Zeitz; † 3. August 2011 in Bantzenheim, Oberelsass), Dachdecker, Josephine-Baker-Imitator und Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald.

Foto: Rudolf Brazda in jungen Jahren

Ein heißer Sommertag 1933. Im Schwimmbad der Mumsdorfer Grube „Phönix“ hält der 20-jährige Dachdeckergeselle Rudolf Brazda Ausschau nach seinem neuen Schwarm: „Auf einmal sehe ich da den wunderschönen jungen Burschen. Ich war fast wahnsinnig, kann man sagen. Er stand dort vor dem Bassin, mit einem langen Bademantel an und ich habe gedacht, wie könnt ich bloß mit ihm zusammenkommen, soll ich ihn ansprechen? Ich bin zu ihm hingelaufen, aber ich habe keine Worte gefunden. Da habe ich ihn einfach ins Wasser gestoßen. Er hat mehr gelacht als geweint und hat mir keinen Vorwurf gemacht. Vielleicht hat er auch an mir Gefallen gefunden. Das war auch so. Auf einen Blick.“

Foto: Rudolf Brazda in jungen Jahren
(Archivfoto, zur Verfügung gestellt von Jean-Luc SCHWAB).

Rudolf Brazdas Beschreibung seiner ersten Begegnung mit Werner Bilz verrät viel über den Charakter dieses Mannes, der als letzter Zeitzeuge gilt, der wegen Homosexualität in einem Konzentrationslager inhaftiert war. Mit seinem Humor und Charme gelang es ihm Zeit seines Lebens, auf Menschen zuzugehen und sie für sich zu gewinnen. Diese Gabe erwies sich als Überlebensticket in einer Zeit, die von der massivsten Verfolgungswelle schwuler Männer in der deutschen Geschichte gekennzeichnet war. „Das Glück kam immer zu mir“, erklärte mir Rudolf Brazda gleich bei unserem ersten Gespräch im Juni 2008. Eine erstaunliche Lebensbilanz für einen Mann, der fast zwei Jahre Gefängnis und drei Jahre Konzentrationslager überlebte.

Doch Rudolf Brazda verstand es, sich seinen Lebensmut auch unter den widrigsten Umständen zu bewahren. Dieses Naturell zeigte sich schon in seiner Jugend, die er in dem kleinen Dorf Brossen im Altenburger Land verbrachte. Als Brazda Ende der zwanziger Jahre sein Interesse an anderen Jungs entdeckte, wechselte er einfach das Geschlecht, um sich den Objekten seiner Begierde zu nähern. Er warf sich in die Kleider seiner Schwester und stahl sich vom Brossener Hof, um in den Gasthäusern der Nachbardörfer mit Männern anzubandeln. Sein großes Vorbild war Josephine Baker. Seit er die schwarze Nackttänzerin im Kino gesehen hatte, imitierte er ihren wilden Tanz und trat damit in den Tanzsälen des Altenburger Landes auf.

Foto: Rudolf Brazda am 21.03.2009 vor dem Deutschen Nationatheater in Weimar

Rudolf Brazda am 21.03.2009 vor dem Deutschen Nationatheater in Weimar (Fotograf: Jean-Luc SCHWAB).

Sein schwules „Coming-Out“ erlebte er aber erst, als er im Sommer nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Werner Bilz kennenlernte. Schon wenige Monate später zog er zu ihm in die benachbarte Kleinstadt Meuselwitz, wo beide zur Untermiete bei der Witwe Helene Mahrenholz wohnten. Die Wirtin räumte sogar ihr Schlafzimmer für die beiden: „Ja, also das Schlafzimmer, in dem die Frau Mahrenholz geschlafen hat, das hat sie denn uns überlassen, denn es war etwas größer, und in ihrem Bett, darin haben wir geschlafen. Es war ein großes Bett, sie hatte früher mit ihrem Mann dort drin geschlafen.“ Unter den Augen der anderen Hausbewohner richteten sich die beiden ein „eheliches“ Schlafzimmer ein. Die Gefahr, dass Nachbarn tratschen und Polizei und Staatsanwaltschaft aufmerksam werden könnten, fürchteten sie offenbar ebensowenig wie die Wirtin, die wegen Kuppelei in Verbindung mit § 175 hätte belangt werden können.

Tatsächlich herrschte in Meuselwitz damals eine erstaunlich offene Atmosphäre: Brazda erzählte mir von toleranten Familienangehörigen und Arbeitskollegen, von wilden Feiern und einer Hochzeit, die er 1934 mit seiner ersten großen Liebe Werner feierte: „Da war auch einer von meiner Verwandtschaft, der uns als Pfarrer den Segen gegeben hat. Wir haben mit dieser Hochzeit einfach eine schöne lustige Feier gehabt.“ Nicht nur Rudolfs Familie ist damals eingeladen: „Da sind gute Freunde von mir gewesen, auch homo, die waren imstande, in Frauenkleidern zu mir zu kommen. Jesses, wenn ich daran denke, die Nachbarn, die in dem großen Hof gewohnt haben, wie die geschaut haben! Sie haben nicht gewusst, waren das Burschen oder waren das wirklich Mädchen? Seinerzeit waren die Menschen so tolerant, sie haben das einfach mitgenommen, so ein Leben, wie wir Homosexuellen gelebt haben.“

Die Strafverfolgungsbehörden waren mit dem Thema offensichtlich überfordert. Die aus Berlin angeordnete Homosexuellenverfolgung kam gerade in ländlichen Regionen, wo es weder auf Homosexuelle spezialisierte Sittendezernate noch erfahrene Kriminalbeamte gab, nur schleppend in Gang. Erst Anfang 1937, nachdem die Altenburger Kripo von Beamten aus Weimar geschult worden war, kam es zu einer großen Verfolgungswelle. Rudolf Brazda wurde am 8. April 1937 in Leipzig verhaftet, vier Wochen Verhöre und Untersuchungshaft machten ihn schließlich so mürbe, dass er seine Beziehung zu Werner am 5. Mai unter Tränen gestand. Rudolf wurde am 14. Mai 1937 vom Landgericht Altenburg zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das war eine vergleichsweise milde Strafe. Positiv angerechnet wurde ihm, dass er nur mit Werner verkehrt und deswegen „die Seuche der widernatürlichen Unzucht nur in geringerem Maß weiterverbreitet hat“.

Foto: Rudolf Brazda am 26. Juni 2010 mit seiner Nichte Petra an seinem 97. Geburtstag

Rudolf am 26. Juni 2010 mit seiner Nichte Petra an seinem 97. Geburtstag (Fotograf: Jean-Luc SCHWAB)

Begleitet wurden die Prozesse gegen die Altenburger Homosexuellen von einer Pressekampagne, die die Verfolgungswelle ideologisch rechtfertigen sollte. So hieß es in einem Bericht der Altenburger Landeszeitung am 18. Juli 1937, „zielbewusst und unerbittlich“ würden „die Träger und Verbreiter dieses Giftes aus dem Volkskörper entfernt, um mit der Ausscheidung dieser Fremdkörper den Heilungsprozess zu beginnen“. Mit biologistischer Terminologie versuchte man, jegliche Empathie mit den Opfern zu zerstören: „Persönliches Mitgefühl muss schweigen, wenn auch die Tragik menschlicher Unzulänglichkeit hinter Gittern verborgen ist. Über allem steht die Gesundheit des Volkes und der Schutz seiner wertvollen Jugend. Darum verlangt das Volk von den Richtern unerbittliche Strenge“.

Brazda wurde im Oktober 1937 aus dem Gefängnis entlassen. Als Sohn tschechischer Einwanderer wurde er nun allerdings „des Reiches verwiesen“. Innerhalb weniger Wochen musste er Deutschland verlassen. Rudolf ging ins Sudetenland, wo er mit einer jüdischen Theatertruppe übers Land zog und Operetten aufführte. Seine Spezialität waren auch wieder Imitationen von Josephine Baker, mit denen er das Publikum zum Rasen brachte.

Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde er 1941 erneut verhaftet und als „Wiederholungstäter“ zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Als er die Strafe im Sommer 1942 verbüßt hatte, deportierte man ihn ins Konzentrationslager Buchenwald. Und auch hier war es wieder seine Fähigkeit, auf andere Menschen zuzugehen, mit der er das Glück herausforderte und sein Überleben sicherte. Es waren vor allem kommunistische Kapos, selbst Häftlinge, aber eben auch Erfüllungsgehilfen SS, die er immer wieder für sich gewinnen konnte und die ihm mehrfach das Leben retteten. Nach der Befreiung 1945 ging Rudolf nach Frankreich, wo er 1950 die Liebe seines Lebens kennenlernte: Eddi, mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 2003 zusammenlebte.

Eine Entschädigung für seine Gefängnis- und KZ-Haft hat Rudolf Brazda wie die meisten verfolgten Homosexuellen nicht erhalten. 1989 und 1992 stellte er Anträge, die abgelehnt wurden, weil die Homosexuellen nicht zu den im Bundesentschädigungsgesetz genannten Verfolgtengruppen zählen und er als Ausländer auch keinen Anspruch auf Unterstützung aus den AKG-Härtefonds habe.

Wie die meisten „Rosa-Winkel-Häftlinge“ hat Rudolf Brazda sein Schicksal über Jahrzehnte verschwiegen. Erst die Einweihung des Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen hat ihn motiviert, an die Öffentlichkeit zu gehen und seine Geschichte zu erzählen.

Rudolf ist am 3. August 2011 im Alter von 98 Jahren gestorben. Dass er seine Verfolgungsgeschichte noch hat erzählen können und damit plötzlich weltweit auf Interesse stieß, hat ihm zumindest einen Teil der „Genugtuung“ gegeben, die er in seinen Entschädigungsanträgen eingefordert hatte.

Autor: Alexander Zinn/Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

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Über den Autor

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Alexander Zinn ist Diplom-Soziologe und promoviert am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt über die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung in Thüringen. Im April 2011 hat er im Campus Verlag die Biographie Rudolf Brazdas veröffentlicht: Das Glück kam immer zu mir. Rudolf Brazda – Das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich. 356 Seiten, 24,90 Euro.

 

Weiteres Buch über Rudolf Brazda von Jean-Luc Schwab:

Lebensweg eines Rosa-Winkel-Häftlings (Itinéraire d’un Triangle rose)

Buchcover: Jean-Luc Schwab:

Jean-Luc Schwab leitet einen französischen Gedenkverein, der sich mit der Deportation der Homosexuellen befasst. Als er im Juni 2008 von Rudolf Brazda erfuhr, stellte Schwab fest, daß er in unmittelbarer Nähe zu diesem einzigen noch lebenden Zeitzeugen Brazda lebt. Er tritt mit ihm in Kontakt und beginnt damit, sein Zeitzeugnis aufzunehmen und untersucht parallel dazu Archive in Deutschland, Frankreich und der Tschechischen Republik. 2009 unternimmt er mit Rudolf Brazda zwei Reisen an seine Lebensorte in Deutschland und der Tschechien, und er veröffentlicht 2010 die von Rudolf Brazda autorisierte Biographie unter dem französischen Titel Itinéraire d’un Triangle rose (Lebensweg eines Rosa-Winkel-Häftlings). Das Buch ist inzwischen auch in Brasilien, Spanien und der Tschechien erschienen.  Jean-Luc Schwab hat Rudolf Brazda während seiner letzten Lebensjahren betreut und ist sein Testamentsvollstrecker.