Inhalt BMH-Newsletter 4/2017:
Nachruf auf Wolfgang Lauinger
Interview zur §175-Rehabilitierung
Hirschfeld-Lecture „Queers und Substanzgebrauch“
News aus Projekten der BMH
Forschungsprojekt in Rheinland-Pfalz
Rückblicke auf BMH-Veranstaltungen
Neuerscheinungen
Ausblick: 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld

 

Liebe Leser_innen,

ich danke Ihnen für Ihr Interesse an der Arbeit unserer Stiftung 2017. Es war ein in jeder Hinsicht aufregendes und fruchtbares Jahr:

Unsere Stiftung wird erstmals durch eine institutionelle Förderung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz in Höhe von 500.000 Euro aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Dadurch konnten wir aus allen bisherigen Halbtags- nun Ganztagsstellen machen und eine Halbtagsstelle wieder neu einrichten. Durch die Zuwendung des Bundes haben wir auch unsere Fördertätigkeit wieder aufnehmen und knapp 145.000 Euro an externe Projekte ausschütten können.

Beispiele aus unserer Arbeit: Im Februar stellten wir gemeinsam mit dem Land Rheinland-Pfalz und dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) die Ergebnisse unserer Kooperationsstudie „Strafrechtliche Verfolgung und gesellschaftliche Repression von Schwulen und Lesben in der Nachkriegszeit“ vor. Im April veranstalten wir mit zahlreichen evangelischen Institutionen den Fachtag „Familie von morgen. Neue Werte für die Familie(npolitik)“. Am 14. Mai enthüllten wir gemeinsam mit der Stadt Magdeburg eine Gedenktafel am Ort der ersten Arztpraxis von Dr. Magnus Hirschfeld.

Gemeinsam mit den Zeitzeugen unseres Archivs der anderen Erinnerungen und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes freuten wir uns am 22. Juni über den Beschluss des Rehabilitierungsgesetzes. In den vergangenen Jahren haben wir sehr intensiv hinter den Kulissen an der Ermöglichung dieses Gesetzes mitgewirkt. Die Bundesstiftung wird das Thema auch weiter intensiv begleiten. Am 30. Juni folgte im Deutschen Bundestag mit der Ehe für alle ein weiterer historischer Beschluss auf dem Weg zur völligen rechtlichen Gleichstellung der Homosexuellen.

Bundestag
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, und Jörg Litwinschuh freuten sich über den historischen Bundestagsbeschluss zur Ehe für alle (Foto: ADS / Sebastian Bickerich).

Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung entwickelt sich unser Modellprojekt „Refugees and Queers. Politische Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ und Flucht/Migration/Asyl“ zu einem queeren Leuchtturm. Und im November beauftragte das Land Rheinland-Pfalz das IfZ in Kooperation mit unserer Stiftung, die Diskriminierung und Verfolgung lesbischer Mütter durch Kindesentzug zu erforschen und in Videos zu dokumentieren.

Ab dem 14. Mai 2018 würdigen wir das Leben und Werk Magnus Hirschfelds anlässlich seines 150. Geburtstages mit zahlreichen Veranstaltungen in Kooperation mit LSBTTIQ-Institutionen und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteur_innen. Am 12. Juli 2018 ist der Ausgabetag des „Sonderpostwertzeichens Magnus Hirschfeld“ – für die Briefmarke haben wir gemeinsam mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft seit Jahren gekämpft. In einem eigenen Newsletter werden wir Sie im Frühjahr über die Details des Jubiläum-Jahres informieren.

Weihnachtsgrüße

Ihnen und Ihren An- und Zugehörigen wünsche ich im Namen des gesamten Teams der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld frohe Festtage und ein friedliches neues Jahr.



Jörg Litwinschuh
Geschäftsführender Vorstand

Abschied

Wolfgang Lauinger 1918-2017

Wolfgang Lauinger

Wolfgang Lauinger ist tot. Wir sind sehr traurig. Wir verneigen uns vor einem wundervollen Menschen, der bis zu seinem letzten Atemzug für die Rehabilitierung aller verfolgten Schwulen und für die Entschädigung aller Folgen von Haft und Verurteilung aufgrund des Paragrafen 175 StGB kämpfte.

Persönlicher Nachruf von Dr. Daniel Baranowski, wissenschaftlicher Referent der BMH

Tagesspiegel: „Opfer des §175 stirbt, ohne rehabilitiert zu werden“ (20.12.2017)
Ausführliches Buzzfeed-Porträt: „Er wurde als Homosexueller verfolgt und eingesperrt. Bis heute bekommt er dafür keine Entschädigung“ (2.12.2017)
Lauinger im Jahr 2015 im Video-Interview mit Michael Bochow, Karl-Heinz Steinle und Daniel Hübner für das „Archiv der anderen Erinnerungen“

Heinz Schmitz

Interview zur Rehabilitierung: „Ein ganz kurzer Satz, der so schwerwiegend für die eigene Gefühlswelt ist“

Seit dem Sommer können Verfolgte nach §175 StGB einen Antrag auf Rehabilitierung stellen. Im Oktober hat Heinz Schmitz als einer der ersten Betroffenen seine Rehabilitierungsbescheinigung erhalten. Mit Dr. Daniel Baranowski von der BMH hat er kurz danach über seine Gefühlslage gesprochen

Heinz Schmitz
Heinz Schmitz (l.) mit Karl-Heinz Steinle in der Vorbereitung des Interviews

Heinz Schmitz wird 1943 in Freiburg im Breisgau geboren. 1962 wird er nach Paragraf 175 wegen „Unzucht mit Männern“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Seit einigen Jahren spricht er öffentlich, aber unter Pseudonym, über seine Erfahrungen. Im Februar 2016 berichtet er in einem bewegenden Interview für das „Archiv der anderen Erinnerungen“ der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) erstmals ausführlich über sein ganzes Leben. Seitdem engagiert er sich verstärkt im Kampf um Rehabilitierung und Entschädigung. Im Interview freut er sich, dass er jetzt bestätigt bekommen habe, was er immer wusste: „Du bist unschuldig gewesen.“

Das Interview auf der Webseite der BMH

Rückblick

Hirschfeld-Lecture „Queers und Substanzgebrauch“

Am 25. Oktober 2017 fand die 12. Hirschfeld-Lecture im Wilde Oscar / Lebensort Vielfalt in Berlin statt, in Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) und der Schwulenberatung Berlin. Dr. Dipl. Psych. Gisela Wolf referierte zum Thema „Queers und Substanzgebrauch – Dauerthema und Tabu“.

Substanzgebrauch stellt in queeren Communitys sowohl eine gängige Praxis als auch ein Gesundheitsrisiko dar. Erfahrungen gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aktuellen Studien zufolge konsumieren queere Menschen häufiger riskant psychotrope Substanzen. Eine offene, wertungsfreie und diskriminierungssensible Diskussion darüber findet leider nur selten statt; die Debatten werden vielmehr polarisiert geführt. Auf der einen Seite werden die Folgen, die Substanzkonsum für die Betroffenen und ihr Umfeld haben kann, klein geredet oder gar nicht erst thematisiert. Auf der anderen Seite werden aber auch die positiven Aspekte von und Motive für den Rausch, wie bspw. Neugier und Lust, wenig wahrgenommen. Zwischen diesen Positionen ist es für Menschen, die beim Substanzkonsum die Kontrolle verlieren, und deren Umfeld schwierig, einen solidarischen Umgang zu finden. Dass sie in der Gesundheitsfürsorge zudem häufig auf trans*- und homofeindliche Vorannahmen treffen, ist ebenfalls problematisch.

Wie also solidarisch über Substanzkonsum diskutieren? Wie die Folgen von Substanzgebrauch in der Community thematisieren, ohne das Verhalten Einzelner zu problematisieren, aber doch den gesellschaftlichen Kontext im Blick behalten, in dem dies stattfindet?

Um diese Fragen zu diskutieren widmete sich die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) mit der 12. Hirschfeld-Lecture diesem Thema. Der Vortrag Wolfs ist inzwischen als 12. Band in der Schriftenreihe „Hirschfeld Lectures“ im Wallstein-Verlag erschienen.

Der Band auf der Webseite des Verlags

Auf den Vortrag folgte eine von Richard Lemke (Uni Mainz) moderierte Podiumsdiskussion mit Dr. Pum Kommattam (Psychologischer Psychotherapeut / Lesbenberatung LesMigraS), Tanya Dolis (Psychologische Psychotherapeutin), Arnd Bächler (Schwulenberatung), Dr. Dirk Sander (DAH), Timo Koch (Teilnehmer 12 Schritte Programm) und Dr. Martin Viehweger (Veranstalter „Let’s talk about sex and drugs“). Dabei ging es um einen Austausch über die verschiedenen Zugänge und Perspektiven zum Thema, insbesondere was es bedeutet, dass die Prävalenz von riskantem Substanzgebrauch in der LSBTTIQ-Community so hoch ist. Die Versorgungssituation in Berlin und in der BRD allgemein wurde beleuchtet und die Frage aufgeworfen, wie Räume in der Community gestaltet sein sollten, dass sich alle wohl fühlen können.

Hirschfeld Lecture

Die 13. Hirschfeld-Lecture wird sich im nächsten Jahr dem Thema Bisexualität widmen. Hierfür kooperieren die beiden Referate der Stiftung, um das Thema aus einer kulturhistorischen sowie einer soziologischen Perspektive zu beleuchten.

News aus Projekten

Refugees & Queers

In den letzten Monaten hat die BMH mit ihrem Projekt „Refugees & Queers – Politische Bildungsarbeit an der Schnittstelle LSBTTIQ und Flucht / Migration / Asyl“ ein wichtiges und aktuelles Thema mit mehreren Veranstaltungen begleitet:

Fortbildung 1: Wie konzipiere ich eine Behördenfortbildung?
Die erste Fortbildung richtete sich an Trainer_innen und Multiplikator_innen, die mit Behördenmitarbeiter_innen arbeiten oder dies anstreben. Das Seminar fand vom 13.-15. Oktober in Hütten (Thüringen) statt, in Kooperation mit Kadir Özdemir, Landeskoordinator der Niedersächsischen Vernetzungsstelle für die Belange von LSBTI-Flüchtlingen (NVBF).
Ziel des Seminars war, Multiplikator_innen dazu zu befähigen, eigenständig Sensibilisierungen und Fortbildungen mit Behörden-Mitarbeiter_innen durchzuführen. Längerfristiges Ziel ist eine verstärkte Sensibilisierung von Behördenmitarbeiter_innen, die mit (queeren) Geflüchteten zu tun haben. Dadurch sollen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität als Fluchtgründe stärker bekannt gemacht und Sensibilität über Diskriminierung in behördlichen Abläufen verankert werden.

Fortbildung 2: Leaving the queer bubble – PR und Medientraining
Die zweite Fortbildung fand vom 27.-29. Oktober in Bad Sachsa (Niedersachsen) statt. Damit wurde das Anliegen vieler Akteur_innen aufgegriffen, die bemängelten, dass die Themen LSBTTIQ und Flucht/Migration/Asyl in der breiten Öffentlichkeit bislang zu wenig Beachtung finden oder nur sehr einseitig dargestellt werden, dass ihnen aber die Fähigkeiten fehlen, hierzu eine gute und zielgerichtete Pressearbeit zu machen.
Die Teilnehmenden erlernten hier praktisches Handwerkszeug und Strategien, um sich in der deutschen Medien- und Presselandschaft mit ihren Themen besser zu platzieren. Dadurch sollen langfristig neue und diversere Sichtbarkeiten von queerer Fluchtmigration hergestellt und die Möglichkeit zur Selbstrepräsentation gestärkt werden. Außerdem trug eine Einheit zu (Digital) Storytelling dazu bei, vielfältigere Geschichten erzählen zu können.

2. Vernetzungstreffen „Refugees & Queers“

Am 24. November fand das 2. Vernetzungstreffen in Kooperation mit dem rubicon e.V. und der Fachstelle „Queere Jugend NRW – Projekt Geflüchtete Queere Jugendliche“ im Solution Space in Köln statt. An die 50 Teilnehmende waren gekommen, um gemeinsam zu diskutieren, sich auszutauschen und zu vernetzen. Das Projektseminar der Hochschule Esslingen hat einen Erklärfilm zur Situation queerer Geflüchteter vorgestellt, der in Kürze online verfügbar sein soll.
Katja Schröder (rubicon e.V.) und Patrick Dörr (LSVD e.V.) tauschten sich mit den Teilnehmenden über ihre Erfahrungen zu Schulungen und Sensibilisierungen zum Thema LSBTTIQ-Geflüchtete in Unterkünften, Ämtern, Sprachmittlung und Willkommensinitiativen aus. Ibrahim Mokdad (rubicon e.V. / sofra cologne), Ichraf Ouhtit (Rosa Strippe e.V.), Alia Khannum (LSVD e.V.) und Ajay Sathyan diskutierten ihre Situation und Erfahrungen als Queer-Refugee-Aktivist_innen. Zum Abschluss gaben Pouya Arastoo (rubicon e.V. / baraka), Fadi Saleh (Universität Göttingen) und Raphael Bak (SCHLAU NRW) Einblicke in ihre Arbeit und diskutierten Konzepte zu geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung jenseits westlicher Deutungsmacht. Nach dem Vernetzungstreffen gab es einen gemeinsamen Ausklang mit Essen und Musik beim baraka-Abend in den Räumen des rubicon e.V. – baraka ist eine Selbstorganisationsgruppe für LSBT*I*Q-Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund.

„Archiv der anderen Erinnerungen“

Das „Archiv der anderen Erinnerungen“ umfasst die Vorbereitung, Durchführung, Sicherung, Nachbereitung und Erschließung von lebensgeschichtlichen Videointerviews mit Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender, Inter und queeren Menschen (LSBTTIQ) aus der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Acht neue Interviews in 2017
Mit einem weiteren Betroffenen des §175 StGB konnten wir im Oktober ein lebensgeschichtliches Videointerview führen. Im Dezember schließlich werden wir unseren langjährigen Schwerpunkt der Dokumentation lesbischen Lebens in Berlin durch ein weiteres Interview ergänzen. Damit haben wir im Jahr 2017 acht Videointerviews aufgenommen und insgesamt bereits 42 Lebenszeugnisse für das „Archiv der anderen Erinnerungen“ erhoben. Die positiven Reaktionen der Interviewten ermutigen uns, dieses wichtige Projekt auch im nächsten Jahr durch die Aufnahme weiterer Interviews auszubauen.

Schwerpunkt §175
Für neue Interviews suchen wir derzeit speziell Menschen, die aufgrund des §175 StGB angeklagt oder verurteilt worden sind, um in einem neuen Schwerpunkt die Lebensgeschichten und -schicksale dieser Personen gezielt zu sammeln. Wenn Sie bereit sind, über Ihre Lebenserfahrungen vor der Kamera zu sprechen, dann kontaktieren Sie gerne vertrauensvoll Dr. Daniel Baranowski, unseren wissenschaftlichen Referenten für Kultur, Geschichte und Erinnerung (daniel.baranowski@mh-stiftung.de, 030/208987653).

Forschungsprojekt in Rheinland-Pfalz

Lesbische Zeitzeuginnen gesucht

Das rheinland-pfälzische Familien- und Frauenministerium fördert eine Studie des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin in Kooperation mit der BMH zur Diskriminierung und Verfolgung weiblicher Homosexualität in Rheinland-Pfalz. Die Studie soll Erkenntnisse zur Situation von lesbischen Frauen, die sich aus der im vergangenen Jahr abgeschlossenen Untersuchung ergeben haben, vertiefen und das Scheidungs- und Sorgerecht in den Mittelpunkt stellen. Mütter, deren lesbisches Leben bekannt wurde, konnten bis in die 1980er Jahre hinein das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren.

In diesem Zusammenhang werden auch Betroffene gesucht, die dazu bereit sind, in Interviews über ihre Erfahrungen zu berichten. Mehr Informationen dazu bietet diese Pressemitteilung.

Rückblicke

Hirschfeld Akademie 2017

Am ersten Dezemberwochenende 2017 fand die Tagung „Orte der Begegnung – Orte des Widerstands“ in der Akademie Waldschlösschen (AWS) statt. Die Dezembertagung, in diesem Jahr zur „Geschichte homosexueller, trans*geschlechtlicher und queerer Räume“, ist Teil der Hirschfeld-Akademie, bei der die AWS und die BMH bei der Entwicklung und Durchführung von Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie der LSBTTIQ-Bildungsvernetzung kooperieren.

In diesem Jahr ging es um Raumaneignungen und Raumgestaltungen von LSBTTIQ. Denn Emanzipationsbestrebungen von Lesben, Schwulen und Trans*menschen können in der Regel auch als Prozesse beschrieben werden, sich „eigene Räume“ zu schaffen. Räume, die der Konstituierung und internen Selbstdefinition der Gruppen wie auch als Symbol ihrer Außendarstellung dienen. In den verschiedenen Phasen der Bewegungen haben Räume der Begegnung und des Widerstands eine entscheidende Rolle gespielt: das Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld; die Bar- und Clubkultur als Ort der Selbsterprobung und -behauptung für Trans*menschen; öffentliche Toiletten, die sich Männer als sexuellen Raum angeeignet haben; FLT*-Räume als safere und mutige Räume für FrauenLesben und Trans*; örtliche Zentren der Selbstorganisation, des politischen Widerstands und der Selbsthilfe; Demonstrationen, insbesondere zum CSD, als Aneignung des öffentlichen Raumes oder auch queere Bars und Bühnen, die jede identitäre Zuordnung ablehnen.

Im ersten Block referierte Prof_in. Dr_in. Yvonne P. Doderer zur historischen und aktuellen Bedeutung der Raumfrage für homosexuelle, transgeschlechtliche und queere Bewegungen und Karl-Heinz Steinle stellte einige Treffpunkte und andere Freiräume für LSBTTIQ in der frühen Bundesrepublik vor.

Im zweiten Block stellte zunächst Babette Reicherdt einige Überlegungen zu lesbischer Raumproduktion aus der Perspektive der Geschichte frühneuzeitlicher homosozialer Gemeinschaften an. Dr. Michael Bochow diskutierte die Frage, ob Klappen eher kommerzfreie Szenenparadiese oder Zuflucht des verklemmten gewöhnlichen Homosexuellen darstellen. Marion Thuswald stellte verschiedene Konzeptionen queer-feministischer Schutzräume vor und fragte, ob solche Räume eher als safere oder als brave spaces zu verstehen sind. Dr. Peter Rehberg begab sich in virtuelle Räume und fragte nach der Intimität sexueller Begegnungen in Chaträumen und auf Dating-Apps. Dr. Nina Schuster analysierte Raumaneignungspraktiken der Drag-King- und Trans*-Szene und Dr. Marty Huber betrachtete Räume, die sich sexuelle Minderheiten auf der Flucht aneignen, als radikale Konfliktzonen.

Im dritten Block ging es mit Dr.-Ing. habil. Wolfgang Voigt und Dr.-Ing. Uwe Bresan um schwule Architekten als Lücke in der Architekturgeschichte und um queere Architektur.

Workshop „QueerSearch“

Am 24. und 25. November 2017 fand in den Räumen des FFBIZ e. V. (Frauenforschungs-, -bildungs- und Informationszentrums) in Berlin-Friedrichshain der von der BMH geförderte Workshop „QueerSearch“ statt. Unter der engagierten Leitung von Dr. Benno Gammerl (Initiative Queer Nations) und Hannes Hacke (Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin) kamen Vertreter_innen vom FFBIZ, Forum Homosexualität München, QWIEN, Lili-Elbe-Archiv, Centrum Schwule Geschichte Köln, Schwules* Museum, IHLIA Amsterdam, Spinnboden Lesbenarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, der Genderbibliothek HU Berlin, Magnus Hirschfeld-Gesellschaft, Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität und der BMH zusammen, um über Chancen und Herausforderungen einer gemeinsamen Archivplattform zu diskutieren. Vorgestellt wurden außerdem der META-Katalog des i.d.a. Dachverbandes und das Digitale Deutsche Frauenarchiv. Das Treffen soll im Jahr 2018 eine Fortsetzung erfahren.

Symposium „Justiz und Homosexualität“

Unter der Leitung unseres Beiratsvorsitzenden Prof. Dr. Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin fand am 18. und 19. Dezember 2017 in der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen in Recklinghausen ein Symposium zum Thema „Justiz und Homosexualität – Schwule und Lesben in der Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts“ statt. Das Tagungsthema wurde von den Referent_innen unter historischen, rechtlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven in den Blick genommen. Unser Referent Dr. Daniel Baranowski stellte die Auswirkungen des Paragrafen 175 auf die Lebenswege von Betroffenen dar. In der sehr fruchtbaren und bereichernden interdisziplinären Auseinandersetzung konnten Historiker_innen und Jurist_innen von den jeweils anderen Blickwinkeln und Einschätzungen profitieren. Die Auseinandersetzung mit dem Thema und die Ergebnisse der Tagung werden in einer Publikation versammelt, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2018 erscheinen wird.

Neuerscheinungen

„Communities, Camp und Camouflage. Bewegung in Kunst und Kultur“

Von Carolin Küppers, wissenschaftliche Referentin der BMH, und Rainer Marbach von der Akademie Waldschlösschen herausgegeben liegt nun der sechste Band der Edition Waldschlösschen zur Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945 vor.

Homosexuelle Kunstproduktion war und ist ein vielstimmiger Kanon. Dazu gehören Camouflage und Camp, gegenkulturelle und mainstream-kompatible Entwürfe ebenso wie Strategien befreienden Lachens und behaglichen Amüsements. Welche Rolle spielte und spielt die Kunst jedoch in den politischen Homosexuellenbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert? Wie hat sie die LSBTTIQ-Bewegungen inspiriert, unterstützt oder reflektiert?

Welches Kunst- und Kulturverständnis hatten und haben die Protagonist_innen? Diesen Fragen und dem sich wandelnden Stellenwert von Kunst, Literatur, Theater, Tanz und Musik für LSBTTIQ spürt dieser Band nach, der im Anschluss an die Dezembertagung 2016 zum Thema entstand, einer jährlichen Veranstaltung des Bildungs- und Tagungshaus in Kooperation mit der BMH.

Der Band versammelt auf 258 Seiten Beiträge von Muriel Aichberger, Joachim Bartholomae, Jens Dobler, Corinna Gekeler, Elmar Kraushaar, Dirck Linck, Markus Pfalzgraf, Xaver Rammbock, Annette Runte, Judith Schönenberger, Charlotte Silbermann, Karl-Heinz Steinle, Wolfgang Theis und Paula-Irene Villa.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

„Gefährlich oder gefährdet?“

„Diskurse über Sexarbeit zur Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Südafrika“ – Das ist Thema und Untertitel der Dissertation der wissenschaftlichen BMH-Referentin Carolin Küppers, die im Oktober in der Reihe Geschlecht und Gesellschaft im Verlag Springer VS erschienen ist.

In einer empirisch gesättigten und innovativen Analyse der südafrikanischen Medienberichterstattung vor der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2010 zeigt Carolin Küppers, wie über das Massenereignis WM Diskurse über Sexarbeit verstärkt medial inszeniert und so öffentlich verhandelt und sichtbarer werden. In den Narrativen über die Zunahme von Sexarbeit zur WM sind auf verschiedenen Ebenen heteronormative Vorstellungen von Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen sowie Fußball-Fans mit vergeschlechtlichten Deutungen von Sexualität, „race“, Migration und Nation verwoben.

Sexarbeitende selbst kommen in der Regel als „Andere“ in die Sphäre medialer Sichtbarkeit: als „Hure“ oder als „Opfer“ von Gewalt, Menschenhandel und Kommodifizierung. Diese Subjektivierungsformen konstituieren sich maßgeblich über die Zuweisung von Gefährdung oder Gefahr für das nationale Kollektiv. Es gibt jedoch noch eine weitere Subjektposition: die der „Mutter“. Hier erscheinen Sexarbeitende als Teil des „Eigenen“, als verantwortungsvolle, selbstlose und moralisch agierende Subjekte. Mit einer besonderen Aufmerksamkeit für die Widersprüche und Feinheiten medialer Semantiken zeichnet die Autorin aus einer postkolonialen, queeren und intersektionalen Perspektive nach, wie Sexarbeitende in diesem Diskurs dargestellt und in spezifischen Subjektpositionen hervorgebracht werden.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

„Teilhabe für alle ?!“

Über „Lebensrealitäten zwischen Diskriminierung und Partizipation“ informiert dieser neue Band der Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe Bd. 10155). Er möchte anhand der Lebensrealitäten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen Teilhabe-Hindernisse sichtbar machen und zu deren Überwindung beitragen. Oftmals stehen stereotype Vorstellungen von Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung einer umfassenden Partizipation entgegen, führen Armut oder Behinderung zu gesellschaftlicher Ausgrenzung oder werden Menschen benachteiligt, weil in ihrer Lebensgeschichte Zuwanderung eine Rolle spielt.

In dem Band schreiben Carolin Küppers und Ulrich Klocke über die Situation lesbischer, schwuler, bisexueller und queerer Menschen und diskutieren, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse durch zunehmende Sichtbarkeiten und flexiblere Geschlechternormen inklusiver gestaltet werden können.

Der Band auf der Webseite der Bundeszentrale

Kalender der Charta der Vielfalt

Das Projekt „Charta der Vielfalt“ hat erstmals einen praktischen Wandkalender erstellt, der viele Termine zum Thema Diversity enthält: Neben wichtigen christlichen, jüdischen, hinduistischen, islamischen, buddhistischen und baha’istischen Feiertagen sowie Terminen des Projekts enthält der Kalender auch zahlreiche weitere Tage und Termine, wie beispielsweise die größten Christopher Street Days oder den Tag des Flüchtlings.

Den Kalender kostenfrei per E-Mail bestellen (solange Vorrat reicht)
Der Kalender als PDF
Alle Termine im .ics-Format

„Die Argonauten“

Maggie Nelsons nun auch auf Deutsch vorliegendes Buch „Die Argonauten“ ist eine literarisch-autobiografisch-theoretische Spurensuche nach queeren Identitäten, Familienkonstellationen, Be- und Empfindlichkeiten. In schonungsloser Offenheit lässt uns Nelson an ihren Lektüren, Gefühls- und Lebenswelten teilhaben.

Die US-amerikanische Dichterin, Kritikerin und Essayistin verliebt sich in dem mit einem „National Book Critics Circle Award“ ausgezeichneten Buch in Harry Dodge, einen Künstler – oder eine Künstlerin? – mit fluider Genderidentität. Harry hat bereits ein Kind, Maggie wird schwanger, zu viert bauen sie ein gemeinsames Leben. Im Geiste von Susan Sontag und Roland Barthes verbindet Maggie Nelson theoretische und persönliche Erkenntnissuche, um zu einer neuen Erzählung des Wesens von Liebe und Familie zu gelangen.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

„David Bowie Made Me Gay. 100 Years of LGBT Music“

Weitgehend unbeachtet oder ausgeblendet wird in historischen Darstellungen oftmals der immense Beitrag von LSBTTIQ-Musiker_innen für die Entwicklung der Popmusik. Darryl W. Bullock füllt diese Lücke durch seine materialreiche, von der Kritik hochgelobte Studie.

Der bislang nur auf Englisch vorliegende Band spannt einen Bogen von früher Jazz- und Bluesmusik des beginnenden 20. Jahrhunderts über eine Zeit des Undergrounds und einer Wiedererweckung nach Stonewall bis in die Erfolge in der unmittelbaren Gegenwart. Dabei beleuchtet Bullock längst vergessene Künstler, etwa aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, ebenso wie Elton John, Boy George, Freddie Mercury oder George Michael.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

Vorankündigung: „Refugees & Queers“

Im März 2018 erscheint im Transcript-Verlag der Band „Refugees & Queers – Forschung und Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ, Fluchtmigration und Emanzipationspolitiken“, der auf einen entsprechenden Fachtag der BMH vom November 2016 in Dresden basiert.

Verfolgung aufgrund marginalisierter sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität ist in der BRD ein anerkannter Asylgrund. Etwa zehn Prozent der derzeit einreisenden Geflüchteten sind lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder queer – kurz LSBTTIQ-Geflüchtete. Sie sind in der BRD mit spezifischen Formen von Diskriminierungen konfrontiert, wodurch in der LSBTTIQ-Community einerseits ein zunehmendes Bewusstsein über Flucht und Migration entsteht sowie das Bedürfnis, sich politisch und unterstützend einzubringen. Andererseits werden mit aktuell verstärkten Migrationsbewegungen auch Sorgen um emanzipatorische Errungenschaften laut, die zum Teil jedoch in rassistische Zuschreibungen abgleiten.

Die Beiträge des Bandes begegnen der Diskussion in differenzierter Weise und nehmen die Herausforderungen, aber auch Chancen und Möglichkeiten jenseits von Verallgemeinerungen und Paternalismus in den Blick. Sie befassen sich mit Forschungsethik, partizipativen Erhebungsmethoden, medialen Repräsentationen, intersektionalen Erfahrungen sowie den konkreten Bedürfnissen von LSBTTIQ-Geflüchteten in Erstunterbringung und Asylverfahren. Der Band bietet somit einen Einblick in verschiedene Sensibilisierungskonzepte und Bildungsansätze zum Thema LSBTTIQ-Geflüchtete.

Das Buch auf der Webseite des Verlags

Ausblick

150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld

Am 14. Mai 2018 begehen wir den 150. Geburtstag des Namensgebers unserer Stiftung Magnus Hirschfeld. Bis zum 100. Gründungstag des von Hirschfeld mitinitiierten Instituts für Sexualwissenschaft im Sommer 2019 möchten wir in Zusammenarbeit mit mehreren Berliner Institutionen an Hirschfelds Leben und Wirken kritisch erinnern. Genauere Informationen folgen in einem der nächsten Newsletter.

Magnus Hirschfeld 1929 mit einem Besucher aus China
Bild: Wellcome Images (cc by 4.0)

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