Else Ida Pauline Kienle (* 26. Februar 1900 in Heidenheim an der Brenz; † 08. Juni 1970 in New York), war eine deutsche Ärztin, Schriftstellerin und Sexualreformerin, die sich für Frauenrechte engagierte und den Abtreibungs-Paragraphen §218 ablehnte.

Porträtfoto: Else Ida Pauline Kienle

Else Kienle wurde zusammen mit Friedrich Wolf im Februar 1931 wegen „gewerbsmäßiger Abtreibung“ und damit verbundenen Verstoßes gegen den Paragraphen §128 verhaftet. Sie verbrachte sechs Wochen in Untersuchungshaft und schrieb währenddessen an ihrem Tagebuch, in dem sie über die Haft, die Vernehmungen und Fallbeispiele aus ihrer eigenen Praxis berichtete. Täglich wurde sie zum teilweise drei, vier und fünfstündigen Verhör gefahren. Nachmittags folgte eine mehrstündige Sitzung vor dem Untersuchungsrichter. Im Anschluss an einen siebentägigen Hungerstreik fiel sie in eine lange Ohnmacht und wurde, nachdem sie einen Krankenhausaufenthalt verweigert hatte, wegen Haftunfähigkeit entlassen.

„Es gibt keine absolute moralische Begründung, die ein Gesetz ewig und unabänderlich machen kann. Gesetze sind von Menschen für Menschen gemacht und müssen sich mit ihnen wandeln“.

Der Untersuchungsrichter bezog während der Sitzungen eine klare Position und sah sich in einer belehrenden Funktion zum Schutz der Volksgesundheit. Es wurden viele Fälle aus der eigenen Praxis von Else Kienle diskutiert. Im Folgenden wird eine Auswahl von ihnen vorgestellt.

Der Fall Dreyer

Es handelte sich um eine verheiratete Frau, die drei Kinder auf die Welt brachte und einen bewussten Entschluss zur Abtreibung getroffen hatte. Der Mann von Frau Dreyer betrieb in einem kleinen Dorf einen Landbäckereiladen, in dem beide von morgens bis abends arbeiteten. Sie konnte bereits den drei Kindern in ihrer Aufsicht nicht gerecht werden, weil es kaum eine ruhige Minute gab und der Mann nebenbei noch Weinberge besaß, die er fest bestellen und ernten musste. Im Herbst, unter den steigenden beruflichen Anforderungen, machte sich eine Schwangerschaft anhand zunehmend geschwollener Knöchel und Füße, sowie dem Ausbleiben der Regelblutung bemerkbar. Einige Zeit danach rezidivierte eine Nierenerkrankung. Bezogen auf ihre Arbeit und Mutterschaft hätte Frau Dreyer zur Genesung einige Wochen krankheitsbedingt ausfallen müssen. Sie deutete die Nierenerkrankung aber auch als Zeichen der Ablehnung ihres Körpers der Schwangerschaft gegenüber. Schließlich wurde ihr von Else Kienle geholfen.

Der Fall Hanna

Hanna war eine junge, begabte Musikerin, die ein paar Jahre zuvor einen jungen Künstler kennenlernte. Sie heirateten beide rasch und lebten zusammen in ihrem Atelier. Anfangs verdiente ihr Mann reichlich Geld, aber irgendwann zogen sich die Käufer zurück, beiden ging es finanziell schlechter und er hausierte von Tür zu Tür, um für ein paar Mark seine Zeichnungen zu verkaufen. Hanna versuchte währenddessen ein bisschen Geld mit Klavierstunden zu verdienen. Nach ein paar Monaten stellte sie fest, dass sie schwanger ist und sah in dieser finanziell schwierigen Situation keinen anderen Ausweg, als sich eine Lysollösung zu beschaffen, diese sich selbst zu spritzen und damit die Schwangerschaft abbrechen zu können. Sie injizierte sich die Lösung und wurde für ein paar Stunden bewusstlos. Wieder erwacht wollte sie die Spuren ihrer Tat beseitigen, fühlte sich jedoch zu schwach, bekam starke Schmerzen und Fieber. Ihr Mann holte so schnell es ging einen Arzt hinzu. Dieser konnte nur noch über ihren Zustand Auskunft geben und mit Schmerzmitten ihr Leiden lindern. Nach einem achtstündigen Todeskampf verstarb sie.

Der Fall Werner – eine Gesellschaftsehe

Frau Werner hatte in jungen Jahren eine der damals üblichen Gesellschaftsehen geschlossen. Sie kannte ihren Mann kaum und lernte ihn auch später kaum kennen. Sie verreisten viel zusammen, aber kümmerten sich sonst nicht umeinander. Im Laufe ihrer Ehe wurde Frau Werner sich zunehmend ihrer Einsamkeit bewusst und versuchte ihren Mann darauf anzusprechen. Dieser wehrte ihre Andeutungen jedoch ab. Sie zog sich daraufhin immer mehr zurück, verbrachte viel Zeit bei einsamen Ausritten mit ihrem Pferd oder Aufenthalten auf ihrer Jagdhütte. Dort besuchte sie manchmal ihr Schwager, zu dem sie sich erst freundschaftlich, dann leidenschaftlich hinzugezogen fühlte. Nach einer anhaltenden Liaison, saß sie bei Else Kienle im Wartezimmer und wollte Gewissheit über ihren Zustand haben. Dort erfuhr sie von ihrer Schwangerschaft, die sie unmöglich akzeptieren konnte. Trotz aller Hilflosigkeit in dieser Situation, berichtete sie ihrem Mann davon. Dieser reagierte nicht mit der sonst üblichen verbindlichen Ruhe. Daraufhin ging Frau Werner in das Nebenzimmer, nahm ihre Flinte und erschoss sich.

„Das sind lebendige Menschen, über deren Leid kein Gericht der Welt urteilen kann! Jedes dieser Frauenschicksale trägt sein eigenes, unerbittliches Urteil schon in sich selbst!“

Else Kienle war sich bewusst, dass eine Abtreibung einen außerordentlichen Eingriff und ein Risiko für den Frauenkörper darstellt. Sie bezog sich auf ihre beispielhaft genannten Fälle als sie kritisierte, dass die Ärzte ihre Möglichkeiten nur schlecht oder gar nicht ausnutzten. Eine leichtfertige Verallgemeinerung und Verleumdung von Selbstbestimmungsrechten sieht sie daher als grundlegend falsch und appelliert an ein neues, modernes Verantwortungsgefühl seitens der Ärzte und des Staates.

Nach ihrer Freilassung nahmen Else Kienle und Friedrich Wolf an der Bewegung des Paragraphen 218 teil. Sie sprachen für den „Kampfausschuss“ auf vielen Versammlungen im ganzen Land. Am 15. April 1931 fand die größte dieser Kundgebungen im Berliner Sportpalast mit weit über 100.000 Menschen statt.

„Der Kampf der Frau entschied sich an diesem Punkte: Bei der Eroberung des Rechtes über den eigenen Körper. So wenig es für den Mann einen Zwang zur Zeugung gab, so wenig durfte die Frau zum Gebären gezwungen werden.“

Über ihren Beruf als Ärztin hatte sie eine sehr moralisch geprägte Meinung. Eine große Bedeutung sah sie in der Verantwortung des Arztes sich selbst und seinen Patienten gegenüber, sowie in die Gefahr den Blick für die allgemeinen Dinge zu verlieren.

„Es ist ein Glück, wenn er gleich zu Beginn einen Begriff von der großen Fraglichkeit alles menschlichen Wirkens erfährt“

Während ihrer Zeit als Assistenzärztin auf der sogenannten „Polizeistation“, der geschlossenen Abteilung für Geschlechtskrankheiten im Stuttgarter Katharinenhospital, begann sie über die ersten Fragen zur Rechtfertigung und zu den Grenzen medizinischer Maßnahmen nachzudenken. So berichtete sie auch von einigen männlichen Patienten, die sie aufsuchten.

Der Fall „Vier Kreuze“ – Else Kienle und die Transvestiten?

Dieser Fall hat weniger mit dem Thema der Abtreibung zu tun, als dass sie berichtete wie erst einer, dann irgendwann mehrere männliche Patienten sie regelmäßig besuchten. Sie berichtet von einem Mann, der ihr seine Lebensgeschichte als eine lange Reise darstellt. Von einem Waisenhaus hin zu der Ausbildung als Dekorationsmaler und einer anschließenden Wanderschaft durch Europa. Danach diente er als Soldat im ersten Weltkrieg, wo er aufgrund einer erblichen Erkrankung mütterlicherseits erblindete. Nun sitzt er vor ihr und drängt darauf sich zu entblößen. Zu ihrer Verwunderung trägt er zu seinen schweren Herrenstiefeln feine Damenstrümpfe. Er berichtet wie er darunter leidet, sich unsauber empfindet und trotzdem sieht er es als seine letzte Rettung, dem Halt in seinem Leben. In weitere Details geht Else Kienles Bericht nicht, nur dass er ihr erzählt, was er keinem Mann zu sagen wagt. Eine Aufklärung bleibt sie in diesem Fall schuldig, trennt diesen und andere männliche Patienten allerdings klar von männlichen Patienten, die andere Neigungen ihr Gegenüber hatten und gewaltsam aus der Praxis entfernt werden mussten.

Else Kienle war das erste Kind von Otto (1872-1946) und Elisabeth Kienle (1873-1944), geb. Zeller. Sie hatte noch einen jüngeren Bruder, welcher später an einer Ablösung der Netzhaut erkrankte. Die Eltern erkannten schon sehr früh die Begabung ihrer Tochter und so besuchte sie, als zu dieser Zeit einziges Mädchen, ein Gymnasium und wurde auch Klassenbeste. Dank der Unterstützung ihrer Großmutter konnte sie sich ihrem Vater gegenüber behaupten und ein Medizinstudium absolvieren. Im Jahr 1928 heiratete sie den Bankier Stefan Jacobowitz, der ihr nicht nur ein Pferd und zwei Autos schenkt, sondern auch eine eigene Praxis mit kleiner Klinik.

Im Herbst 1932, nachdem sie bereits 1931 in Untersuchungshaft gewesen ist, muss sie wieder befürchten, verhaftet zu werden und flieht nach Frankreich. Ihre Ehe wird daraufhin geschieden, doch bleiben beide freundschaftlich verbunden. An der Riviera lernt sie den amerikanischen Geschäftsmann George LaRoe kennen, er wird ihr zweiter Ehemann. Im Jahr 1935 eröffnet sie erneut eine Praxis, diesmal in Amerika und spezialisiert sich auf plastische Chirurgie. Sie hat beruflich Erfolg, wird aber nie mehr als Sexualreformerin tätig. Else Kienle machte sich in New York einen Namen als Dermatologin und Schönheitschirurgin, vor allem im Bereich der Wiederherstellungschirurgie.

In einem Golfclub lernte sie den Zahnarzt Dr. Ernest C. Gierding kennen. Er wurde 1937 ihr dritter Ehemann, von dem sie sich nach kurzer Zeit wieder scheiden ließ. 1938 besuchten sie ihre Eltern das letzte Mal in Amerika. Während des Krieges brach ihr Kontakt zur Familie ab. Erst nach Kriegsende erhielt sie eine erste Nachricht ihres Vaters, der sie darüber in Kenntnis setzte, dass ihre Mutter 1944 verstorben war. Zwei Jahre darauf, 1946, verstarb ihr Vater.

Else Kienle schrieb ihr zweites Buch mit dem Titel „Woman Surgeon – The Autobiography of Else K. La Roe“ 1957, das 1968 als deutsche Ausgabe unter dem Titel Mit Skalpell und Nadel erschien.

Am 8. Juni 1970, im Alter von 70 Jahren, starb Else Kienle in New York. Genau wie ihr Mann wurde auch sie eingeäschert und in dessen Heimat Oklahoma beigesetzt.

Autorin: Niki Trauthwein/Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Literatur (Auswahl)

  • Anton Kaes, Martin Jay & Edward Dimendberg: The Weimar Republic Sourcebook. University of California Press, Berkeley and Los Angeles, London (UK), 1994. S. 213ff.
  • Atina Grossmann: Reforming Sex: the German movement for birth control and abortion reform 1920 – 1950. Oxford University Press, 1995.
  • Else Kienle: Frauen – Aus dem Tagebuch einer Ärztin. Berlin, 1932.
  • Else Kienle: Frauen – Aus dem Tagebuch einer Ärztin, SchmetterlingVerlag.
  • Else Kienle: Der Fall Kienle in Die Weltbühne, Ausgabe 15, 14. April. 1931.
  • Else Kienle: Woman Surgeon. The Autobiography of Else K. La Roe. Dial Press, New York, 1957.
  • Else Kienle: Mit Skalpell und Nadel. Das abenteuerliche Leben einer Chirurgin. Rüschlikon-Zürich, Stuttgart, Wien. Müller. 1968.
  • Ingrid Zwerenz: Frauen. Die Geschichte des §218. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1980. S. 535.
  • Janssen-Jurreit, Marielouise (Hg.): Frauen und Sexualmoral. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, 1986.
  • Kubik, Georg: Gegen §218. Zwei Stuttgarter Ärzte in der Weimarer Republik. Wissenschaft und Sozialismus e.V., Frankfurt/Main, 1993.
  • Paul Weindling: Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism 1870 – 1945. Cambridge University Press, 1989. S. 459ff.
  • Steinecke, Verena: Ich musste zuerst Rebellin werden. Trotz Bedrohung und Gefahr – das gute und wunderbare Leben der Ärztin Else Kienle. Schmetterling Verlag, Stuttgart, 1992.

Links