Gert Christian Südel (* 1951 ; † 2014) war ein trans Aktivist und Pionier. Er gründete den vermeintlich ersten Verein nach dem Zweiten Weltkrieg, betrieb Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit, verlegte mehrere Rundschreiben und beeinflusste die Geschichte von trans Menschen in Deutschland maßgeblich. Ohne sein Engagement und seinen Idealismus wäre die Geschichte der Transgeschlechtlichkeit in Deutschland eine entscheidend andere gewesen.

Porträtfoto: Gert Christian Südel

Die Gründung des Arbeitskreis TS
Im Sommer 1972 fasste Gert Christian Südel den Beschluss mit einigen anderen zusammen den „Arbeitskreis TS – Interessengemeinschaft für Transsexuelle und Transvestiten“ zu gründen, die nach heutigem Stand erste Vereinigung von trans Menschen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits seit 1968 bestand diese Gruppe informell und setzte sich aus allen seinen Kontakten, die er bis dahin in Europa schließen konnte, zusammen. In Gesprächen, die er immer wieder mit Volkmar Sigusch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) führte, erfuhr er, dass viele trans Menschen Probleme hatten, sozial ausgegrenzt wurden und es keine Informationsstellen gab. Selbst so niederschwellige Informationen über Läden für Damenschuhe in Übergrößen, Perücken oder ganz allgemein Möglichkeiten sich mit Gleichgesinnten zu treffen, gab es nicht. Da sein Weg in der Transition bisher äußerst vorteilhaft verlaufen war und er auch Tommy , seinen besten Freund, hatte, auf den er sich immer verlassen konnte, wollte er andere Menschen in die gleiche, unterstützende Lage versetzen und ihnen eine gesellschaftliche Heimat bieten. Gert imponierte damals sehr, wie sich die trans Menschen im Nachtleben gegenseitig geschult und abgehärtet hatten. Vor allem bewunderte er ihren Humor, mit dem sie viele bedrückende Situationen überspielten. Es war kein einfaches Leben, sondern von viel Härte geprägt.

„Wir wollen dazu beitragen, daß der und die einzelne Transsexuelle aus seiner Isolation herausfinden kann. Aus einer Isolation, in der es an Beratungsmöglichkeiten, an der Chance zur Aussprache und am Verständnis der Umwelt fehlt.“

Gert Christian Südel, 1972

Eine erste Zeitschrift für die Community?
Als erstes Informationsmaterial, und damit nach heutigem Stand erstem Informationsmaterial in deutscher Sprache überhaupt, welches Betroffenen zugänglich gemacht wurde, verfasste Gert Christian Südel mit drei anderen Personen zusammen ein erstes Periodikum . Die sogenannten „Manuskripte“ verschickte er auch überregional per Post. Eine genaue Liste der Rezipient_innen ist nicht erhalten geblieben, aber es ist davon auszugehen, dass er sie wahrscheinlich an alle Interessierte, Freund_innen und Bekannte schickte, die er in Europa kennengelernt hatte. Inspirieren ließ er sich dabei von der amerikanischen Zeitschrift Drag, die Angie Stardust von ihren Reisen nach New York mitbrachte und Ausgaben an Freund_innen und Bekannte in Deutschland verteilte. In seinem Nachlass hat sich zudem eine unvollendete Linoleum-Druckplatte erhalten, die wahrscheinlich ein erster Cover-Entwurf für eine TS-Zeitung gewesen sein könnte. Ob sie unvollendet ist, weil die Arbeit an der TS-Zeitung vorzeitig eingestellt wurde oder man sich für ein anderes Artwork entschied, lässt sich heute leider nicht mehr zweifelsfrei feststellen.

„Der Teufelskreis eines Transsexuellen“
Gert Christian Südel, Nachlass Lili Elbe Archiv.

Gründung des BETSI e.V.
Beratungsstelle für Transsexuelle – Informationsdienst
Gert Christian Südel hat sich im Haus seiner Großeltern eine Dachgeschosswohnung gemietet, weil sein Arbeitskreis TS immer bekannter wurde und er dort transgeschlechtliche Menschen aus halb Europa empfangen hatte. Diese übernachteten zum Teil auch bei ihm und die Nähe zum Gasthof der Eltern war für größere Treffen und gemeinsame Abende sehr praktisch. Es war in der Siedlung bekannt, dass Gert Christian Südel transgeschlechtliche Menschen beraten hatte. Es war so eine kleine Siedlung, dass, wenn sich irgendjemand ein bisschen suchend umsah, etwas verloren wirkte und gendermäßig nicht ganz einzuordnen war. Die Leute sagten: „Ah, sie wollen sicher zu Herrn Südel. Das ist da rechts und dann links.“ In den umliegenden Geschäften ist man mit seinen Besuchern ebenfalls sehr gut umgegangen.
Es gab vor allem transgeschlechtliche Frauen, die Hemmungen hatten im Kleid und ähnlichem rauszugehen. Mit jenen übte er überall in der Siedlung regelmäßig. Er machte mit ihnen z.B. eine Fotosession, bei der sie selbst vor sowie auch hinter der Kamera standen. Hinter der Kamera konnten sie sich gefühlt verstecken und darüber ganz vergessen, dass jemand sie angucken könnte.
Auch bot es eine Ablenkung von der eigenen Wahrnehmung, weil sie ihre Aufmerksamkeit gezielt auf andere Dinge richteten und damit die Stressbelastung in diesen ungewohnten, neuen Situationen verringert werden konnte. Das war für sehr viele damals hilfreich. Er ging mit ihnen auch einkaufen und der Bäcker in der Siedlung hatte immer charmante Komplimente parat. Manchmal sagte er: „Ach, haben sie eine tolle Stimme. Fast wie Amanda Lear.“ Das wirkte sich sehr positiv auf das Selbstwirksamkeitserleben der Frauen aus und sie gingen jedes Mal ganz glücklich nach Hause.
In dieser Zeit nahm die politische Arbeit immer weiter zu und Gert Christian Südel fand, dass es an der Zeit für eine Professionalisierung wäre. Er stimmte sich schriftlich über die Rundschreiben mit allen engagierten und interessierten Menschen ab, woraufhin sie zuerst den 03. und 04.12.1977 als Datum für die Gründungsversammlung festlegten. In einem Rundschreiben fragte Gert dann nach den Wünschen zur Anreise und Übernachtungen, weil viele Personen von außerhalb Hamburgs anreisen würden.
Wegen des großen Interesses an der Gründung des BETSI e.V. und auch wegen der unerwartet vielen Rückmeldungen, als er erwartet hatte, verlegte Gert Christian Südel das Datum aus organisatorischen Gründen auf den 15.01.1978. Die Zeit im BETSI e.V. war insgesamt sehr geprägt von den Verhandlungen um das Transsexuellengesetz. Gleichzeitig organisierte Gert Christian weiterhin Fotosessions und vermittelte Personen für Beiträge an verschiedenen Zeitungen.

Zeichnung: die Gender-Symbole für männlich und weiblich liegen in einer Landschaft mit einer Mauer zwischen ihnen. Auf der rechten Seite der Mauer steht eine Figur.

Artwork des BETSI e.V.

Der Weg zum Glauben
Als seine damalige Beziehung auseinander ging, hatte er das Gefühl gehabt jetzt 30 Jahre alt zu sein und ein bisschen mehr Bodenhaftung in seinem Leben gebrauchen zu können. Bisher war sein Leben immer sehr spontan und unbeständig verlaufen. Er hüpfte von einer Beziehung in die andere und auch mal mitten in der Nacht in unterschiedliche Hotelzimmer. Das erfüllte ihn auf einmal nicht mehr. Von seinen Abenteuern verabschiedete er sich zunehmend und wandte sich inneren Werten zu. Es war also Zeit für einen Neuanfang. Auch mit seinem Verein hörte er auf. Die aktivistische Zeit für ihn war vorbei und er hatte nichts dagegen, wenn andere Menschen irgendwelche Gruppen gründen und sich organisieren würden. Er ging guten Gewissens in den aktivistischen Ruhestand und hat diese Entscheidung nicht bereut. Immerhin hatte er das Transsexuellengesetz mit zu verantworten und damit mehr für alle transgeschlechtlichen Menschen erreicht als vor oder nach ihm irgendjemand anderes. Das war für ihn ein schöner Schlussstrich unter seinem Engagement. In den folgenden Jahren beschäftigte er sich immer intensiver mit dem christlichen Glauben und blieb bis an sein Lebensende ein engagiertes Mitglied bei der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

Literatur

  • Trauthwein, Niki. 2019. „Wege aus der Isolation – Emanzipatorische Bestrebungen und strukturelle Organisation in den Jahren 1945 bis1980“, In: Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Berlin, Landesstelle für Gleichbehandlung -gegen Diskriminierung (Hrsg.): Auf nach Casablanca? Lebensrealitäten transgeschlechtlicher Menschen zwischen 1945 und 1980, Band 37.Berlin, S. 53–68.
  • Trauthwein, Niki. 2020. Peter Pan in Hamburg Gert-Christian Südel: Transpionier, Aktivist und Überlebenskünstler, Reihe: Gender-Diskussion, Band 33, Berlin: Lit Verlag.
  • Trauthwein, Niki. 2019. „Wege aus der Isolation – Emanzipatorische Bestrebungen und strukturelle Organisation in den Jahren 1945 bis1980“, In: Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Berlin, Landesstelle für Gleichbehandlung -gegen Diskriminierung (Hrsg.): Auf nach Casablanca? Lebensrealitäten transgeschlechtlicher Menschen zwischen 1945 und 1980, Band 37.Berlin, S. 53–68.Trauthwein, Niki. 2016. „Trans*-Community-Zeitschriften
  • Trauthwein, Niki. 2017.“Biographische Skizzen geschlechtlicher Identität“, In: Loccumer Pelikan, Nr. 1/2017, S. 45–47. und Pamphlete als Bildungsort“, In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Band 29, Heft 4, S. 124–129.

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