Bundeskabinett bringt Rehabilitierungsgesetz auf den Weg
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld begrüßt diese wichtige Entscheidung
Aktuelles Forschungsprojekt zur „Verfolgung und Diskriminierung von Homosexualität in Rheinland-Pfalz“ beweist die lebensgeschichtliche Nachwirkung von Diskriminierung in der jungen Bundesrepublik nach 1945
Im Jahr 2002 hob der Deutsche Bundestag die während der Zeit des Nationalsozialismus ergangenen Urteile gegen Homosexuelle auf und rehabilitierte die bis 1945 Verurteilten. Mit der heutigen Entscheidung im Bundeskabinett hat nun der Entwurf für das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ (StrRehaHomG) eine wichtige Hürde genommen. Jetzt werden der Deutsche Bundestag und der Bundesrat den Gesetzentwurf beraten. Der Bundestag wird ihn spätestens in seiner letzten Sitzungswoche Ende Juni vor Ablauf der Legislaturperiode beschließen. Damit würden alle strafgerichtlichen Urteile wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen, die in der Bundesrepublik, in der DDR und zuvor in der Nachkriegszeit ergangen sind, pauschal durch Gesetz aufgehoben. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Verurteilten auf Antrag eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro sowie zusätzlich 1.500 Euro „je angefangenem Jahr erlittener Freiheitsentziehung“ zusteht.
Jörg Litwinschuh, Geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH): „Dieser Gesetzentwurf ist ein bedeutender Meilenstein auf dem langen Weg zur Rehabilitierung der Opfer des § 175 StGB. Wir danken den vielen Akteur_innen, allen voran dem Bundesjustizminister Heiko Maas, der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Christine Lüders und denjenigen Abgeordneten in allen Bundestagsfraktionen, die sich für die Rehabilitierung engagiert haben. Seit der Gründung der Bundesstiftung 2011 begleitet dieses Thema auch uns intensiv. Wir lassen Betroffene zu Wort kommen und bewahren ihre Geschichte und Geschichten: Unser Stiftungsprojekt ‚Archiv der anderen Erinnerungen’, das seit 2013 die Schicksale und selbstbewussten Lebensgeschichten verfolgter Schwuler und Lesben anhand von Videointerviews dokumentiert, konnte bei vielen Politiker_innen die Emotionen wecken, die zu einer ernsthaften Beschäftigung mit den Folgen des Unrechts geführt haben. Das hat aus meiner Sicht mit dazu beitragen, dass die Rehabilitierung der Opfer der Strafverfolgung in greifbare Nähe gerückt ist. Ich bin sehr froh darüber, dass nun endlich Gerechtigkeit hergestellt wird.“
Darüber hinaus hat die BMH gemeinsam mit institutionellen Kooperationspartnern die ersten großen staatlich finanzierten Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung auf den Weg gebracht, zum Beispiel in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Erst vor wenigen Wochen wurden die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Verfolgung und Diskriminierung von Homosexualität in Rheinland-Pfalz“ veröffentlicht. Diese erste umfassende Studie zur Repression an schwulen Männern und lesbischen Frauen für ein deutsches Flächenland war vom Familienministerium Rheinland-Pfalz in Auftrag gegeben worden. Jörg Litwinschuh: „Diese Studie ist wichtig für ganz Deutschland. Sie zeigt am Beispiel von Rheinland-Pfalz auf, welche schrecklichen Erfahrungen Schwule und Lesben in der Nachkriegszeit machen mussten, und belegt die Folgen von gesellschaftlicher und staatlicher Kriminalisierung und Diskriminierung in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Die damaligen Landesregierungen unterstützten die Bestrebungen zur überfälligen Änderung oder Abschaffung des § 175 StGB bis zur Strafrechtsreform 1969 nicht. Darüber hinaus arbeitet die Studie zum ersten Mal auch die Repressionsgeschichte von Frauen liebenden und lesbischen Frauen auf.“
Homosexuelle Handlungen von Männern waren – unter wechselnden Tatbestandsvoraussetzungen – bis 1994 strafbar. Die junge Bundesrepublik hatte die 1935 durch die Nationalsozialisten verschärften §§ 175, 175a des Strafgesetzbuchs (StGB) übernommen. So kam es zwischen 1949 und 1969 in der Bundesrepublik zu rund 50.000 Verurteilungen. Die Verurteilungen waren nicht nur strafrechtlich relevant. Sie zerstörten in vielen Fällen Partnerschaften, bürgerliche Existenzen und ganze Biographien. Diese Männer leben nach wie vor mit dem Makel einer Verurteilung.
Kontinuitäten der Homosexuellen-Verfolgung und -Repression in Deutschland:
50.000 Männer und Jugendliche
wurden unter dem NS-Regime zwischen 1933 und 1945 rechtskräftig nach §§ 175, 175a StGB verurteilt
5.000 Männer und Jugendliche
deportierte die Gestapo nach Strafverbüßung in Konzentrationslager, vor allem „Wiederholungstäter“ – sog. „Jugendverführer“ – und sog. „Strichjungen“
50.000 Männer und Jugendliche
wurden in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1969 nach §§ 175, 175a StGB – in der nach wie vor gültigen Fassung von 1935 – verurteilt
„Wissen schafft Akzeptanz“: Über die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) ist nach Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935), Arzt, Sexualreformer und Mitbegründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, benannt. Sie initiiert und fördert Projekte in Forschung, Bildung und Erinnerung und wirkt mit ihrer Arbeit einer gesellschaftlichen Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen (Abkürzung: LSBTTIQ) in Deutschland entgegen.
Die BMH wurde im Oktober 2011 durch die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium der Justiz, errichtet und hat ihren Sitz in Berlin. Ergänzend zum Rehabilitierungsgesetz wird die BMH 2017 erstmalig mit einer institutionellen Förderung aus dem Haushalt des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz in Höhe von 500.000 Euro ausgestattet. 2017 hat die BMH ihre externe Projektförderung wieder aufgenommen. Nächste Einreichungsfrist ist der 15. April 2017. Mehr Informationen finden Interessierte unter http://mh-stiftung.de/foerderung/
In ihrem Interviewprojekt ‚Archiv der anderen Erinnerungen®’ sammelt die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld seit 2013 die individuellen Erfahrungen und Erinnerungen zu LSBTTIQ-Lebensgeschichten seit den 1950er und 1960er Jahren. Klaus Born aus Berlin gab als erster Zeitzeuge im Dezember 2013 ein Videointerview. Heinz Schmitz war der erste Zeitzeuge aus Süddeutschland. Zeitzeuge Wolfgang Lauinger wurde sowohl von den Nationalsozialisten als auch später in der Bundesrepublik wegen seiner Homosexualität verfolgt. | Credits: ADS / Ulrike Delfs
Projektsteckbrief „Verfolgung und Diskriminierung von Homosexualität in Rheinland-Pfalz“ als PDF