Hilde Radusch war Feministin, Frauenrechtlerin, antifaschistische Widerstandskämpferin und streitbare Politikerin für die Akzeptanz lesbischer Frauen. Sie gehört zu den bedeutenden Persönlichkeiten der lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegungen im deutschsprachigen Raum.

Porträtfoto: Hilde Radusch

Hildegard Augusta Adelaide, Marie Radusch (* 6. November 1903 in Altdamm bei Stettin, Kreis Randow ; † 2. August 1994  in Berlin-Schöneberg) war Feministin, Schriftstellerin, Politikerin, Telefonistin, lesbische Wegbereiterin, Gewerkschafterin, freigeistige Humanistin und ist Ehrenmitfrau des FFBIZ – Feministisches Archiv, Berlin. Neben ihrem bürgerlichen Namen nutzte sie die Psdeudonyme Gisela Baer und Sybille Rad.

Neben ihrer Grabstätte auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg (seit 6.11.2016 Berliner Ehrengrab V4 -008-010) wurde 2012 außerdem ein Gedenkort für Hilde Radusch in Schöneberg (Ecke Winterfeldt- und Eisenacher Straße) eingerichtet.


„Ein froher Gruss von froher Fahrt von deinem Kerlchen“ (Frühjahr 1941)

Biografie

Manchmal gibt es magische Momente. Hilde Radusch zu erleben, wie sie auf ihrem kleinen Balkon in ihrer Schöneberger Wohnung sitzt, eine Kladde in ihrer Hand hält und daraus vorliest, das war solch ein magischer Moment.

Mensch stelle sich heute vor: Da schrieb eine offen lesbisch lebende Frau, eine illegal lebende, untergetauchte Kommunistin im Februar 1945 Tagebuch. Bis zum Kriegsende im Mai 45 macht sie das. Schreibt entgegen allen heiligen Regeln konspirativer Schulung, notiert und reflektiert für sich das Näherrücken der Front, textet ihren Überlebenskampf, wie sie ohne Lebensmittelmarken in ihrer Laube in Prieros (Brandenburg) gemeinsam mit ihrer Liebsten die Befreiung erleben kann, schildert die heimlichen Hamstertouren in das zerstörte Berlin, das Austricksen des Terrors und der „Schärgen“, das Hungerdelirium ihrer Freundin, erzählt von ihrer „Zeit der Maskierung“, ihrem Versuch als ‚ganz normale Frauen’ zu leben und entwirft in dieser Schlüsselsituation ihres Lebens, der Verfolgung und Bedrohung von Leib und Leben, auch eine Vision für eine bessere und friedvolle Gesellschaft für nach dem Kriege.

Nicht Opfer, sondern immer Kämpferin“

Spätestens die zehn Monate als Untergetauchte ließen Hilde Radusch zur (selbst)kritischen Chronistin und Schreiben zum geistigen Überlebenstraining werden.

Zu sehen ist dieser magische Moment im Film „Muss es denn gleich beides sein? Aus dem Leben einer Aufsässigen“ aus dem Jahr 1986. Damals erzählte die Dreiundachtzigjährige vor laufender Kamera von ihren fünf Leben:

  • Von ihrer glücklichen Kindheit in Breslau, Aschersleben und Weimar.
  • Von ihrem Aufbruch nach Berlin 1921 und ihrem Eintauchen in die kommunistische Bewegung.
  • Von der „Nazizeit“, ihrem widerständigen Handeln und der Befreiung vom Terror.
  • Von ihrem Zusammenbruch nach 1945, dem Parteirausschmiss aus der KPD und dem Überlebenshorror als ledige, erwerbstätige / erwerbslose Frau im Wirtschaftswunderland West-Berlin.
  • Vom Neuen Anfang in den 1960er Jahren und von ihrer letzten Leidenschaft der Neuen FrauenLesbenbewegung (West-Deutschlands).

 „Ich hab’ mich nie als Frau gefühlt – aber frag mich nicht als was sonst“

Ihr Leben lang kämpfte Hilde Radusch gegen Verfolgung, gesellschaftliche Repression, Diskriminierung und Zwänge, die sie als Feministin, Lesbe und Kommunistin durch die weibliche Geschlechtsrolle und durch die Höherbewertung männlichen Wissens, Wirkens und kapitalistisch codierter Werte erfuhr.

Mit achtzehn Jahren brach sie aus dem bürgerlich gezeichneten Lebensweg aus, durch einen standesgemäßen, heterosexuellen Ehemann und durch Mutterschaft eine existentiell bedeutende, ökonomisch und gesellschaftlich akzeptierte Stellung zu erhalten. Sie suchte Freiheit und Eigenständigkeit. Sie zog nach Berlin, ließ sich am Pestalozzi-Fröbel Haus zur Kinder-Hortnerin ausbilden und ging den Weg durch Qualifikation und Erwerbsarbeit unabhängige und selbstständig zu werden.

Sie wurde Teil der kommunistischen Bewegung. Weil der Rote Frontkämpferbund keine Frauen in den paramilitärischen Kampfverband der KPD aufnahm, initiierte sie mit anderen eine eigenständige Frauensektion, den Roten Frauen- und Mädchenbund. Als offen frauenliebende Frau und als bekanntes Parteimitglied der KPD bekommt  sie nach ihrer staatlichen Anerkennung als Kinderhortnerin zum ersten Mal ‚Berufsverbot’ – es folgten weitere Fälle, in denen sie wegen einem diffusen „deswegen“ eine Stelle verlor oder keine bekam.

Statt mit Kindern zu arbeiten ging sie zur Post. Im Laufe ihres Lebens bekleidete sie eine reiche Anzahl an Berufen: Politikerin, Feministin, Publizistin, weibliche Angestellte, Arbeiterin nennt der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.

Als Telefonistin wusste sie sich gegen die Willkür von Vorgesetzten zu wehren, was ihre Kolleginnen honorierten und sie in den Betriebsrat wählten. In der RGO, der Revolutionären Gewerkschaftsopposition, übernahm sie die Funktion einer „Reichsagitprop.“ und die Reichsleitung der Gewerkschaftszeitung „Post und Staat’“. Mit nur vierundzwanzig Jahren wurde sie Betriebsratsvorsitzende für etwa 600 Angestellte und Arbeiter_innen, Betriebsrätin für Berlin und Zentralbetriebsrätin in der Reichspost.

Die Partei erkannte das Erfolgspotential der jungen Frau und ließ sie für die Stadtverordnetenversammlung kandidieren. Von 1929 bis 1932 war sie KPD-Abgeordnete für Berlin. Doch als selbstbewusste, eigensinnige und offen lesbisch lebende Frau eckte sie in der KPD zu sehr an, als dass sie 1932 von der Partei noch einmal für die Wahl nominiert wurde.

Mein Recht

Wenn ich schon anders
als die Andern bin ‑
wen geht’s was an?
Hab ich damit schon irgendwem
Böses getan?
Ihr braucht für Eure Ellenbogen
So viel Platz!
Ich will ja nur mein Menschenrecht,
das Recht auf meinen Schatz!

Ohne Arbeit und Mandat wurde die Genossin als deutsche Delegierte für das Postwesen in die Sowjetunion eingeladen. Als Kennerin eines des modernsten Nachrichtendienstes Europas reiste sie 1932 ohne deutsche Begleitung nach Moskau, Leningard und Odessa. Zurückgekehrt in ein von den Nationalsozialisten regiertes Deutschland trennte sie sich sofort von ihrer Partnerin Maria, zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und schützte ihre apolitische Exfreundin so vor Repression. Nur wenige Tage später wurde Radusch am 6. April 1933 von den Nationalsozialisten verhaftet.  Die „Politische“ kam in „Schutzhaft“ und wurde im September aus dem Frauengefängnis Barnimstraße direkt in die Überwachung durch die Gestapo entlassen. Dennoch arbeitete sie illegal für die KPD, zunächst bei Siemens und dann in Moabit.

1939 lernte Hilde Radusch ihre Lebensgefährtin Else Klopsch, genannt Eddy, kennen. Mit ihr eröffnete sie die „Lothringer Kücher“, einen privaten Mittagstisch, wo sie Jüd_innen und ausländischen „Zivilarbeiter_innen“, einmal sogar vierzehn Tage lang Kriegsgefangene beköstigten. Sie hatten „grosse Schwierigkeiten mit den Nazis. 1 Jahr war auf uns ein Kopfpreis von 1ooo,- Mark ausgesetzt, wer uns eine strafbare Handlung nachweisen konnte.“ (zitiert aus dem Nachlass Hilde Radusch [FFBIZ-Archiv: B Rep. 500 Acc. 300-4: Handschriftlich ausgefüllter Fragebogen an den Magistrat der Stadt Berlin, Abteilung für Sozialwesen, Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“, Nr. 1938 vom 8. September 1945.])

Im August 1944 sollte Radusch während der finalen Razzia gegen Politische wieder verhaftet werden. Sie wurde gewarnt, ruderte nach Prieros und tauchte in ihrer Laube unter. Eddy folgte ihr in die Illegalität, nachdem sie einen SA-Mann in Berlin zusammengeschlagen hatte, um dessen Verfolgung zu entkommen. Ohne Lebensmittelkarten überlebte das Frauenpaar halbverhungert und für das verbleibende Leben gezeichnet.

Ab Mai 1945 baute Radusch in Berlin-Schöneberg die „Hilfsstelle für die Opfer des Faschismus“ auf und wurde Mit-Initiatorin der Aktion „Rettet die Kinder“.  Wegen lesbischem und nonkonformen Lebens geriet sie in Konflikt mit der Parteilinie. Im Januar 1946 verlor sie mit der Abgabe ihres Parteibuches ihre Arbeit, Einkunft, politische Heimat und die Vision eine humanitäre Welt aufzubauen.

Sie zieht sich aus der Parteiarbeit zurück. Auch ihr SPD-Eintritt im Juni 1948 bleibt ohne politische Folgen. Dennoch ist sie gesellschaftspolitisch aktiv – bei überparteilichen Frauennetzen. Sie gestaltet die Gründungsphase des Berliner Frauenbundes 1947 und der IFFF, der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit, mit und korrespondiert mit Schlüsselpersonen der internationalen Zivilgesellschaft.

Es folgten wieder Jahre des Existenzkampfes und der Diskriminierung. Hilde Radusch versuchte irgendwie und -wo Geld zu verdienen, versuchte als Journalistin, Reporterin, Schriftstellerin unterzukommen und arbeitete mit Eddy in deren Trödelladen in Berlin Mitte.

1948 wurde ihr der Status als „Opfer des Faschismus“ aberkannt. Nach zähem Kampf erhielt sie schließlich eine kleine Erwerbsminderungsrente, die dringend für ihre und für Eddys Krankenpflege nötig war; Eddy verstarb 1960 an den Folgen von Krebs.

Es folgte eine Zeit der Besinnung und der schriftstellerischen Produktion. Ihre Werke fanden mit lesbischem und mit kritischem Vergangenheit aufarbeitendem Inhalt zur NS-Zeit keine Öffentlichkeit.

Meinen Feinden.

Ehe ich sterbe
will ich Dank sagen
allen meinen Feinden.

Sie waren es,
die mir Erkenntnisse vermittelten.
In ihren klugen Argumenten
sah ich meine Berechtigung,
und ihr Haß rief meinen Kampfgeist.

Ohne Euch meine Feinde, wäre ich nie gewachsen.
Habt Dank.                         

(Mai 1968)

In der Neuen Frauenbewegung sah Hilde Radusch ihre Chance, sich wieder politisch einmischen zu können. Sie reagierte auf den Fernsehfilm „Und wir nehmen uns unser Recht! Lesbierinnen in Deutschland“ von 1974 und bot den jungen interviewten Frauen des Lesbischen Aktionszentrums Berlin (LAZ)  ihre Mitarbeit an. Bald zählte sie zum Gründungsteam der L 74, Lesbengruppe 1974, und zum Redaktionskreis der Vereinszeitung, UKZ – Unsere kleine Zeitung, der ersten Lesbenzeitschrift nach 1945.

Als Mittlerin zwischen den Generationen hob sie die Bedeutung von Geschichte und weiblicher Traditionsbildung hervor. 1978 gehört sie zu den Gründungsfrauen des FFBIZ, dem heutigen feministischen Archiv. Als Gestalterin zwischen (Sub)Kulturen engagierte sie sich für so vielfältige Bereiche wie ihr offener Geist den Bogen dafür spannte, etwa in: Astrobrief, „Pelze“ (Treff lesbischer Künstlerinnen), Matriarchatsforschung, alternative feministische Wissenschaftskritik, etc..

Theoretische Konzepte reichten Hilde Radusch nicht aus; sie suchte praktische Alternativen und lebte diese. Mut, Entschlusskraft, Plan und Strategie zeichneten ihre einzelnen Lebensstationen aus. Jenseits von Konvention, Subkultur_en und Parteien lagen ihre Welten, die sie weit über Berlin hinaus bekannt machten.

Im Alter baute sie ihren „Club“ auf. Das war ein Kreis von jüngeren Freundinnen, die ihr ein selbst bestimmtes Altern bis in den Tod in den eigenen Vierwänden ermöglichten. Ihren Nachlaß gab die Geschichtsbewusste in junge und in professionelle Hände, damit diese lesbische Geschichte von Verfolgung und Selbstbehauptung und ihre Eigenständigkeit überliefet wird.

Autorin: Ilona Scheidle

Werke von Hilde Radusch und Beteiligungen in Anthologien (Auswahl)

  • Zusammengeharktes. Berlin  1978
  • Weißer Kristall. Sonderbogen Nr. 48 von „Der Viergroschenbogen“, München 1967.
  • Claudia Pütz und Lisa Wilcke: „Liebe, Tod und Teufelin. Eine Lesben-Anthologie“, München 1988.

Literatur/Medien über Hilde Radusch (Auswahl)

  • Aktives Museum e.V. (Hg.): Vor die Tür gesetzt – Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945. Berlin, 2006.
  • Gélieu, Claudia von: Barnimstraße 10. Berliner Frauengefängnis 1868-1974. Berlin 2014.
  • Radusch, Hilde. In: Hermann Weber / Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. 2Berlin 2008.
  • Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“. Berlin
  • Scheidle, Ilona: Der Gedenkort Hilde Radusch. Eine queer-feministische Intervention in andronormative Gedenkpolitiken. In: Ahland, Frank (Hg.): Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert. Berlin 2016.
  • Muss es denn gleich beides sein? Aus dem Leben einer Aufsässigen“. TV-Film von Petra Haffter und Pieke Biermann, BRD 1985.

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