Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hat mit Befremden zwei Beschlüsse des 128. Ärztetages in Mainz vom 10. Mai 2024 zur Kenntnis genommen (Ic-128 und Ic-48). Beide stellen das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung von Minderjährigen grundsätzlich in Abrede und negieren den aktuellen Forschungsstand zu Geschlechterfragen. Stellungnahmen des Ärztetages sind besonders exponiert, weil ihnen medizinische Expertise zugesprochen wird. Doch genau daran mangelt es den beiden Anträgen eklatant.

Der wissenschaftliche Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld kritisiert die beiden angenommenen Anträge des 128. Ärztetages. Nachfolgend gehen wir auf die beiden Anträge und ihre Argumentationen in gebotener Kürze ein.

Zusammenfassung und Fazit

Die beiden vom Deutschen Ärztetag angenommenen Anträge lassen eine Orientierung an Evidenz vermissen, auf die sich die Ärzt_innenschaft eigentlich verpflichtet hat. Sie stellen vielmehr eine politische Stellungnahme dar, die sogar der bereits verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz widerspricht. Es ist uns unerklärlich, wie derart unwissenschaftliche Anträge auf dem Ärztetag angenommen werden konnten.

Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld fordert den Deutschen Ärztetag zu einer Neubefassung auf, bei der die entsprechenden Fachwissenschaftler_innen – z.B. aus den Leitlinien-Diskussionen – sowie Selbstorganisationen einbezogen werden.

Zu den Einzelanträgen:

Antrag lc-128

Der vom Deutschen Ärztetag befürwortete Antrag lc-128 zielt auf eine Veränderung der mit dem Selbstbestimmungsgesetz getroffenen Rechtslage im Hinblick auf den behördlichen Eintrag des Geschlechts. Konkret heißt es im Beschlussantrag: “Der 128. Deutsche Ärztetag 2024 fordert den Bundestag zu einer Änderung des Selbstbestimmungsgesetzes dahingehend auf, dass es unter Achtzehnjährigen nicht gestattet werden darf, ohne vorherige fachärztliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Beratung Angaben zu ihrem Geschlecht und Personenstand im Personenregister vorzunehmen oder vornehmen zu lassen.”

Der Antrag widerspricht rechtlich dem verfassungs- und menschenrechtlichen Stand: So hat die Bundesregierung die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Beschlusslagen des Bundesverfassungsgerichts (zuletzt etwa der Beschluss 1 BvR 2656/18 vom 24. März 2021 zu Fragen der Klimagerechtigkeit) räumen ausdrücklich ein, dass Kinder und Jugendliche in eigener Sache handeln dürfen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das gerade 75 Jahre alt wurde, ist heute im Zusammenhang mit der inhaltlichen Verpflichtung der Kinderrechtskonvention zu lesen, die die Bundesrepublik ratifiziert hat. Nach aktueller Rechtslage erhalten Personen mit dem 14. Lebensjahr Strafmündigkeit, Religionsmündigkeit, Mitspracherechte im Hinblick auf Sorgerecht etc. Auch im Hinblick auf den Nachnamen kann ab dem 14. Lebensjahr eine Namensänderung nur über eigene Erklärung des Kindes bzw. Jugendlichen erfolgen. In der getroffenen Regelung des Selbstbestimmungsgesetzes ist eine Überdenkungsfrist vorgesehen, die die Ernsthaftigkeit des Beschlusses der jeweiligen Person sicherstellen soll. Es gibt keine rechtlich haltbare Begründung, Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bei der Wahl von Vornamen und Personenstand einer anderen Regelung zu unterwerfen als Erwachsene. Vielmehr zeigt sich, dass in aktuellen politischen und juristischen Entscheidungen die Rechte von Kindern und Jugendlichen zunehmend ernst genommen und gestärkt werden.

Der Antrag behauptet für biologische, medizinische und sexualwissenschaftliche Fragestellungen grob falsch: “Aus medizinischer, sexualwissenschaftlicher wie auch aus biologischer Perspektive ist das Geschlecht eines Menschen eine am Körper feststellbare und in den allermeisten Fällen eindeutig zu bestimmende, keineswegs frei verfügbare, sondern unveränderbare Realität. Das Geschlecht ist biologisch binär, der Begriff ist zu trennen von dem der Geschlechtsidentität.”

In den Fachdisziplinen finden zu den genannten Fragen ausführliche Diskussionen mit zahlreichen Wortmeldungen statt. Hier einen Konsens zu behaupten, vernachlässigt die differenzierten biologischen, medizinischen und sexualwissenschaftlichen Debatten – die zentral gerade nicht auf eine Binarität hinauslaufen. Relevant für die Medizin hat sich mittlerweile die deutliche Mehrheitsmeinung herausgebildet, die von der Pathologisierung von Geschlechtsinkongruenz (GI) wegführt. Diese Entwicklung zeigt sich in der ICD 11 (International Statistical Classification of Diseases 11), in der GI nicht mehr als “psychische Störung” eingeordnet wird und Geschlecht gerade im psychischen Sinne einer Selbstbestimmung im Hinblick auf die Geschlechtsidentität gesehen wird. Auch die kurz vor der Veröffentlichung stehende S2k Leitlinie für Kinder- und Jugendliche versteht, wie bereits die S3 Leitlinie für Erwachsene, GI nicht mehr als Krankheit und trägt damit auch der Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates aus dem Jahr 2020 Rechnung. Geschlechtsidentität ist – entsprechend diesen fachlichen Verständigungen – zu verstehen als ein hochkomplexes, individuelles innerpsychisches Erleben, das weder von außen sichtbar, noch objektivierbar und schon gar nicht diagnostizierbar ist. Daher kann eine psychiatrische Exploration nicht zielführend sein. Geschlechtliches Empfinden ist eine Selbstdefinition.

Die Aufrechterhaltung von Pathologisierung leistet der Stigmatisierung und Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen Vorschub. Diskriminierungen und Stigmatisierungen sind mit großen gesundheitlichen reaktiven Folgeschäden verbunden, die durch das Selbstbestimmungsgesetz gerade vermindert werden sollen. Ärztliches Handeln, das Diskriminierung und Stigmatisierung bei Kindern und Jugendlichen fördert, verstößt gegen das Genfer Gelöbnis. Außerdem wird dadurch Minoritätenstress erhöht, der in der Entwicklung von Geschlechtsinkongruenz bis zu Geschlechtsdysphorie eine erhebliche krankheitsfördernde Rolle spielt. Es stellt sich die Frage, warum die deutsche Ärzteschaft solchen Minoritätenstress, der zu einer Verschlechterung von Gesundheit führt, fördern sollte.

Antrag Ic-48

Der vom Deutschen Ärztetag befürwortete Antrag Ic-48 wendet sich gegen die Vergabe von “Pubertätsblocker[n], geschlechtsumwandelnde Hormontherapien oder ebensolche Operationen bei unter 18-Jährigen mit Geschlechtsinkongruenz (GI) bzw. Geschlechtsdysphorie (GD)”. Im Antrag wird grob falsch behauptet, “die aktuelle medizinische Evidenzlage besagt klar und eindeutig, pubertätsblockierende Medikamente (PB), gegengeschlechtliche Hormonbehandlungen (sog. Cross-Sex-Hormon-Gabe [CSH]) und auch geschlechtsverändernde Operationen (z. B. eine Mastektomie) verbessern bei Minderjährigen mit GI/GD nicht die GI-/GD-Symptomatik und auch nicht die psychische Gesundheit.”

Im Rahmen der Aushandlungen der S2k Leitlinie für Kinder- und Jugendliche wurde die Evidenz soweit als möglich berücksichtigt. Dabei kristallisiert sich die medizinische Sicht heraus, Pubertätsblocker – auf Basis entsprechender kinder- und jugendpsychiatrischer bzw. psychotherapeutischer diagnostischer Einschätzung – zu ermöglichen, da dem Verweigern deutliche negative Auswirkungen für die psychische Gesundheit zugeordnet werden, die bis zur Gefahr der Suizidalität reichen können. In den Debatten wird der Bedeutung der Selbstbestimmung der ratsuchenden Person – auch wenn sie jugendlich ist – ein hoher Stellenwert zugeschrieben (ebd.). Dass es dem Antrag beim Deutschen Ärztetag nicht um Selbstbestimmung ging, wird schon in der äußerst übergriffigen Sprachverwendung deutlich, die nicht mehr dem medizinischen State of the Art entspricht. Um das Selbstbestimmungsrecht der ratsuchenden Person zu würdigen, wird heutzutage von “Geschlechtsangleichung” gesprochen, nicht mehr von “Geschlechtsumwandlung”, wie es in diesem beim Deutschen Ärztetag beschlossenen Antrag noch heißt.