Gedenktag – 20 Jahre Abschaffung des § 175 StGB:
Am 11. Juni 1994 wurde der § 175 StGB endgültig aus dem bundesdeutschen Strafrecht gestrichen
Am 11. Juni 1994 verschwand der § 175 StGB, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, aus dem bundesdeutschen Strafrecht. Mehr als 100.000 Männer – genaue Zahlen sind nicht bekannt – wurden seit seiner Einführung 1872 in das deutsche Strafgesetzbuch verurteilt.
Jörg Litwinschuh, Geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld: „Der § 175 steht nicht nur für Unrecht, für Leid und zerstörte Lebensentwürfe von verurteilten Männern, länger als einhundert Jahre bedrohte er in Deutschland alle Männer liebenden Männer. Und mehr noch: Unter seiner symbolischen Wirkungsmächtigkeit hatten auch Generationen von Lesben und Bisexuellen zu leiden. Die Liberalisierung der Strafvorschrift 1969 änderte daran wenig. Selbst nach der Streichung 1994 bestimmte die einst durch ihn bewirkte Diskriminierung der Homosexualität weiterhin Urteile über Schwule und Lesben in der bundesdeutschen Gesellschaft – homophobe Gewaltakte sind dafür nur ein Indiz. Unbestreitbar ist: Die historisch längst überfällige Streichung des Schandparagrafen markiert eine wichtige Zäsur. Sie war die Voraussetzung, sich nunmehr für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben einsetzen zu können. Ihre völlige Gleichstellung steht allerdings noch aus“.
Seit Jahren fordern die unter dem Label LSBTI* agierenden Verbände und Gruppen eine Aufhebung der nach 1945 gefällten Urteile sowie eine individuelle oder kollektive Entschädigung der Opfer. Im Juni 2013 scheiterte im Rechtsausschuss des Bundestages ein entsprechender Antrag. Ob die Urteile aufgehoben werden können, ist Teil einer noch anhaltenden, politische und juristische Argumente gegeneinander abwägenden Debatte. Im Rahmen der historischen Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte stehen für die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Entschädigungsfrage und Wiedergutmachung nicht im Mittelpunkt ihrer Forschungs- und Bildungstätigkeit. Sie setzt sich vielmehr dafür ein, die Lebensgeschichten jener Menschen zu bewahren, die unter dem § 175 gelitten haben. Zeitzeugen aus der Ära des Nationalsozialismus gibt es nicht mehr, sie sind inzwischen verstorben. Der zuletzt bekannt gewordene aus jenen Jahren war Rudolf Brazda (1913 – 2011). Ihn würdigte anlässlich seines 100. Geburtstages im Juni 2013 der Freistaat Thüringen mit einem Staatsakt im Deutschen Nationaltheater Weimar. (Mehr über das Leben von Rudolf Brazda: http://mhstiftung.de/biografien/rudolf-brazda)
Jörg Litwinschuh: „Heute sind so gut wie keine Männer bekannt, die bereit sind, in der Öffentlichkeit über ihre Verurteilung nach 1945 zu sprechen. Viele sind bereits verstorben, andere haben dieses sie zutiefst demütigende Kapitel ihrer Vergangenheit geschlossen, möchten nicht an all das zugefügte Leid erinnert werden. Ähnliches gilt – obwohl strafrechtlich nicht verfolgt – für lesbische Frauen. Möglicherweise wollen Männer als Zeitzeugen aber auch nicht an die Öffentlichkeit treten, weil sie bis heute als zu Recht Verurteilte gelten. Andere wiederum haben ihre sexuelle Orientierung verborgen gehalten, selbst gegenüber Ursprungsfamilie und engen Freunden. Insofern sind wir sehr froh, dass es Menschen wie Klaus Born gibt, die dieses Schweigen gebrochen haben und für unser „Archiv der anderen Erinnerungen“ ihre persönliche Geschichte erzählten. Klaus Born hat damit einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag geleistet. Seine Erinnerungen können an kommende Generationen weitergegeben werden als Mahnung und Aufforderung jederzeit für die Bewahrung von Menschenrechten einzutreten“.
Zeitzeug_innen gegen Diskriminierung: “Archiv der anderen Erinnerungen” für zukünftige Generationen
Ende März 2014 stellten die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und der Berliner Senat das Video-Zeitzeugenprojekt “Archiv der anderen Erinnerungen” der Öffentlichkeit vor. Damit unterstützen sie die Aufarbeitung der Repressions- und Lebenserfahrungen von LSBTI* in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Die Geschichten noch lebender Zeitzeug_innen sollen in den kommenden Jahren dokumentiert und archiviert werden. Das Video-Archiv leistet einen besonderen Beitrag zur Dokumentation und Erforschung zeitgeschichtlicher „Er-Lebenswelten“ in beiden deutschen Staaten und gibt Einblicke in Umstände und Befindlichkeiten, Selbstentwürfe und Veränderungsprozesse. Die Interviews umfassen individuelle Erfahrungen und Erinnerungen zu LSBTI*-Lebensgeschichten und Lebensweisen seit den 1950er und 1960er Jahren. Über das Projekt hinaus soll gemeinsam mit weiteren Partnern wie z.B. der Landesstelle für Gleichberechtigung – gegen Diskriminierung der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen des Landes Berlin, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, dem Spinnboden Lesbenarchiv, der Technischen Universität Chemnitz, dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ), der ARCUS-STIFTUNG, der Forschungsstelle Archiv für Sexualwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Schwulen Museum die Geschichte der Verfolgung und Repression von LSBTI* aufgearbeitet werden.
Klaus Born (69 Jahre): „Ich erzählte meine Lebensgeschichte, damit das Unrecht nicht vergessen wird!“
Bisher wurden im Rahmen des Stiftungs-Videoprojekts “Archiv der anderen Erinnerungen” mit drei Personen Interviews durchgeführt – darunter Klaus Born und Maria-Sabine Augstein. Klaus Born war der erste Zeitzeuge, der im Dezember 2013 ein vierstündiges Videointerview gegeben hat. Es wurde im Ort der Information (unter dem Stelenfeld) der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas aufgezeichnet. Born wurde 1965 auf Grundlage des § 175 StGB verurteilt und in Berlin-Moabit inhaftiert. Klaus Born: „Ich erzählte meine Lebensgeschichte für Bildung und Forschung, damit das Unrecht nicht vergessen wird!“ Mit Dr. Harm Peter Dietrich und Friedrich Schmehling werden weitere Zeitzeugen in den kommenden Monaten ihre Lebensgeschichten erzählen. (Mehr zur Geschichte der Verfolgung der Homosexualität in beiden deutschen Nachkriegsstaaten siehe: § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Dokumentation des Fachsymposiums am 17. Mai 2011 zum internationalen Tag gegen Homophobie. Berlin 2012. Auch als Download verfügbar)
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, bezieht Position zur aktuellen gesellschaftlichen Debatte um den § 175 (queer.de, 29. Mai 2014): „Der Staat hat große Schuld auf sich geladen, weil er so vielen Menschen das Leben erschwert hat. Dazu müssen wir uns auch heute noch klar bekennen. Der §175 StGB war von Anfang an verfassungswidrig. Er steht für Unrecht, Diskriminierung und gebrochene Biographien. Viele der Betroffenen leiden noch heute unter den Folgen der Verurteilungen. Wir versuchen, zusammen mit der Magnus-Hirschfeld-Stiftung die Schicksale von Verurteilten aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Und: Wir werden in der Bundesregierung weiter darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften beendet werden.“
DER SPIEGEL hat ein eigenes kurzes Interview mit dem Zeitzeugen Klaus Born gedreht (Spiegel online, 3. Juni 2014): http://www.spiegel.de/video/paragraf-175-zeitzeuge-klaus-born-erinnert-sich-an-seine-verhaftung-video-1350623.html
Das vierstündige Zeitzeugenvideo mit Klaus Born und eine Transkription des Videos können Journalisten bei der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld anfordern.
Über die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH)
Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wurde im Oktober 2011 durch die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium der Justiz, errichtet und hat ihren Sitz in Berlin. Die Arbeit der Stiftung konzentriert sich auf die Bereiche Forschung, Bildung und Erinnerung. Benannt ist sie nach Magnus Hirschfeld (1868-1935), Arzt, Sexualforscher und Mitbegründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung. Die BMH hat zum Ziel, an ihren Namensgeber zu erinnern, Bildungs- und Forschungsprojekte zu initiieren und zu fördern und einer gesellschaftlichen Diskriminierung von LSBTI* in Deutschland entgegenzuwirken. Die Stiftung will dabei die Akzeptanz für Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung in der Gesellschaft insgesamt fördern. Gleiches gilt für Menschen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren bzw. sich nicht ausschließlich als Mann oder Frau definieren.
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