Die Coronapandemie betrifft alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. Sie wirkt als Brennglas für die Probleme unserer Gesellschaft: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten verschärfen sich. Menschen und Gruppen, die schon vorher sozial benachteiligt waren, sind von den Einschränkungen in der Pandemie stärker betroffen und haben weniger Ressourcen, mit den teils gravierenden Auswirkungen von COVID-19 umzugehen.
Lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche, queere und asexuelle Personen (LSBTIQ*) sind durch die Pandemie und damit einhergehende politische und rechtliche Maßnahmen sowie gesellschaftliche Veränderungen mit besonderen Herausforderungen und Härten konfrontiert. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hat zunächst in einem Appell auf die Auswirkungen aufmerksam gemacht und diese anschließend gemeinsam mit dem Bundesverband Trans*, Intergeschlechtliche Menschen e. V. und dem Lesben- und Schwulenverband systematisch untersucht.
Appell der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld an Staat und Gesellschaft: COVID-19 und die Auswirkungen auf die LSBTIQ*-Community
Im September 2020 haben Vorstand und Fachbeirat der Stiftung auf die Auswirkungen der Coronapandemie auf LSBTIQ* aufmerksam gemacht und an die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik erinnert, insbesondere an das Recht auf (physische und psychische) Gesundheit sowie an die Diskriminierungsverbote. Staatliche Akteure in Bund, Ländern und Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure und Unternehmen werden in dem Appell aufgefordert, bei der Bekämpfung der Pandemie die besondere Situation der LSBTIQ*-Community zu berücksichtigen.
Der Appell steht hier als PDF zur Verfügung.
Broschüre: Auswirkungen der Coronapandemie auf LSBTIQ
Im Rahmen einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mitfinanzierten Broschüre wurden Ende 2020 mehrere Fachgesprächen mit Expert_innen aus verschiedenen Bereichen durchgeführt. Außerdem wurden LSBTIQ*-Organisationen und Initiativen online zu den Auswirkungen der Coronapandemie befragt.
Dabei haben wir vier große Themenbereiche identifiziert: Communitystrukturen, Gesundheit, Lockdown und Kontaktbeschränkungen sowie gesellschaftliche Debatten und Agenda Setting
Ziel der Broschüre ist es, Entscheidungsträger_innen in Politik und Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen zu motivieren und aufzufordern, die Auswirkungen der Pandemie auf unterschiedliche Gruppen in den Blick zu nehmen. Es gilt, mit LSBTIQ*-Communityvertreter_innen ins Gespräch zu kommen und mit ihnen kurz- und langfristige Lösungsansätze zu erarbeiten.
Die Broschüre steht hier als doppelseitiges PDF sowie als barrierefreies PDF zur Verfügung.
Befragung: LSBTIQ*-Communitystrukturen in der Coronapandemie
Mittels einer Online-Befragung wurden LSBTIQ*-Organisationen und -Initiativen bundesweit befragt, wie sich die Pandemie auf ihre Arbeit und auf ihre Nutzer_innen auswirkt.
255 Initiativen aus allen Bundesländern haben an der Befragung teilgenommen. Diese Initiativen bieten unter anderem Gruppen- und Selbsthilfeangebote für LSBTIQ* an, beraten und begleiten LSBTIQ* zum Beispiel bei Coming-outs, Transitionen, Diskriminierungserfahrungen oder rechtlichen Fragen und führen Bildungsveranstaltungen an Schulen durch.
Knapp 90 Prozent der Initiativen beschrieben die Auswirkungen der Pandemie als negativ, 18 Prozent sogar als extrem negativ. Sie konnten ihre Tätigkeiten und Angebote in der Coronapandemie nur eingeschränkt fortführen. Die Digitalisierung von Angeboten und die Entwicklung von Hygienekonzepten sorgten bei vielen Initiativen für einen stark erhöhten Arbeitsaufwand.
Schon vor der Pandemie wurden in den Initiativen viele Angebote durch ehrenamtliche Arbeit gewährleistet. In der Pandemie haben die Kapazitäten der Ehrenamtlichen bei 43 Prozent der Initiativen abgenommen, da Individuen durch die Pandemie einer erhöhten Belastung ausgesetzt waren und weniger Möglichkeiten hatten als zuvor, sich ehrenamtlich zu engagieren.
Bei knapp einem Drittel derjenigen Initiativen, die vor der Pandemie finanzielle Ressourcen hatten, hat sich die finanzielle Situation verschlechtert, 15 Prozent können die finanziellen Folgen noch nicht abschätzen.
Die befragten Initiativen nahmen bei den Nutzer_innen ihrer Angebote ebenfalls eine Verschlechterung der Gesamtsituation dar. 93 Prozent der befragten Initiativen gingen davon aus, dass sich der psychische Zustand ihrer Nutzer_innen verschlechterte, 67 Prozent davon, dass sich der körperliche Zustand verschlechterte. Die Befragten berichteten außerdem von einer wahrgenommenen Zunahme von Gewalterfahrungen ihrer Nutzer_innen sowohl im Privaten als auch im öffentlichen Raum. Die öffentlichen Gewalterfahrungen betrafen insbesondere Personen, die mehrfach diskriminiert werden. Der Bedarf an den Angeboten der Initiativen dürfte also eigentlich größer als kleiner geworden sein.
Die Initiativen berichten teilweise auch von positiven Begleiterscheinungen der Pandemie, insbesondere durch die notwendige Digitalisierung. Sie konnten digital mehr Nutzer_innen erreichen und sich besser vernetzen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass digitale Angebote auch viele LSBTIQ* ausschließen und viele Initiativen und Nutzer_innen nicht die notwendige technische Ausstattung hatten. Die Angaben der Initiativen machten deutlich, dass digitale Angebote Präsenzangebote nicht ersetzen, sondern nur ergänzen können.
Die Initiativen nannten vielfältige Forderungen und Empfehlungen an Politik und Verwaltung, um ihre Arbeit und die Situation ihrer Nutzer_innen wieder verbessern zu können. Dazu zählen insbesondere Forderungen, die Finanzierung der Initiativen langfristig sicherzustellen, Schutzräume für LSBTIQ* zu ermöglichen, die Gesundheitsversorgung und Selbstbestimmung von LSBTIQ* zu gewährleisten, Sexarbeit zu ermöglichen, sicheren Wohnraum insbesondere für obdachlose und/oder geflüchtete LSBTIQ* zur Verfügung zu stellen, niedrigschwellig Informationen zur Coronapandemie und den Maßnahmen zur Verfügung zu stellen und zu verbreiten sowie LSBTIQ* Lebensrealitäten in politische Regulierungen einzuschließen.
Hier können Sie den Forschungsbericht der Befragungsstudie downloaden. (pdf nicht barrierefrei)
Erzähl Deine Corona-Story! – Das Coronarchiv sammelt in Kooperation mit der BMH Corona-Geschichte(n) von und für LSBTIQ*
Am 15. November 2021 begann die neue an die LSBTIQ*-Community gerichtete Kampagne des Coronarchivs: LSBTIQ*-Personen sind dazu aufgerufen, über ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse auf www.coronarchiv.de zu berichten.
„Menschen und Gruppen, die schon vorher sozial benachteiligt waren, sind von den Einschränkungen in der Pandemie stärker betroffen“, so Dr. Daniel Baranowski, Vorstand der BMH 2021-2022. „Deine LSBTIQ*-Corona-Story!“ fragt explizit nach ganz persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen der LSBTIQ*-Community.
„Ziel unserer Kampagne ist es, diese Geschichten für die Zukunft zu sammeln und sichtbar zu machen“, Luca Jacobs – Projektmitarbeiter an der Uni Hamburg. „Wir haben hier eine historische Chance, um die Quellen für die zukünftige Forschung live zu sammeln. Irgendwann ist die Pandemie vorbei. Wie in Zukunft von der Pandemie gesprochen und über sie gedacht wird, hängt wesentlich davon ab, welche Zeitzeugnisse erhalten bleiben“.
Das coronarchiv ist ein offenes Online-Archiv der Universitäten Hamburg, Bochum und Gießen. Seit Ende März 2020 können alle Bürger_innen ihre Erlebnisse, Erinnerungen und Fundstücke dokumentieren.
Das Corona-Archiv ist auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Türkisch erreichbar und ist innerhalb eines Jahres zu einer der weltweit größten digitalen Sammlungen zur Pandemie geworden: Über 5000 Menschen haben bereits mitgemacht. Und die Beiträge können sowohl mit Klarnamen als auch anonym eingereicht werden.
Die BMH hofft, durch die Kooperation in diesem wichtigen Projekt, die Erfahrungen von LSBTIQ* sichtbar zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass queere Geschichte von Anfang an erzählt wird.
Bei Fragen zum Thema „Auswirkungen der Corona-Pandemie auf LSBTIQ*“ wenden Sie sich gerne an: