„Es ist ja keine Einbahnstraße”
Seit November 2011 ist Jörg Litwinschuh (44) Geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Ein Gespräch über die Historie, blinde Flecken und darüber, wie diverse Lebensweisen in die Mehrheitsgesellschaft kommen.
Foto © Sabine Hauf
Herr Litwinschuh, was ist die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld?
Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ist das Ergebnis eines über zwanzigjährigen Prozesses. Eines Streits. Eines Werbens dafür, dass der Staat symbolisch „Wiedergutmachung“ leistet – hauptsächlich für die Repression und Verfolgung von Lesben, Schwulen, Trans-, Intersexuellen im Nationalsozialismus. Und genau deshalb ist auch die Historie so wichtig, in der auch die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft eine große Rolle spielt.
Und woraus besteht diese Geschichte?
Vor über zwanzig Jahren haben hauptsächlich schwule Historiker damit begonnen, für diese Idee einer Stiftung zu werben. Daraus ist später das Aktionsbündnis Magnus-Hirschfeld-Stiftung entstanden. Das haben sich wiederum zum Teil Verbände und politische Parteien sowie einige Politiker zu eigen gemacht – dadurch hat es mehr Professionalität in der Vermarktung und dann auch mehr öffentliche Wahrnehmung bekommen. Vor weit über zehn Jahren haben sich der Lesben- und Schwulenverband sowie Bündnis 90/Die Grünen dieser Idee angenommen. Die Idee kam also auf dem „politischen Marktplatz“. Und dann ist es tatsächlich schon einmal vor über zehn Jahren gelungen, eine Gesetz im Deutschen Bundestag zu verabschieden für die Einrichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung.
Die Stiftung hätte es also eigentlich schon vor zehn Jahren schon geben sollen. Warum hat das so lange gedauert?
Politisch war es zwar der Wille des Volkes sozusagen. Das Gesetzt ist aber dann im Bundesrat gescheitert, weil die Mehrheit im Bundesrat gesagt hat, dass die Besetzung der Kuratorien zu stark auf die interessierten Verbände und einzelne Parteien, nicht so sehr auf den wissenschaftsinspirierten und bundestagsbeschlussorientierten Stiftungszwecks zugeschnitten gewesen sei.
War dem so?
Im gesellschaftlichen Kurzzeitgedächtnis war das eine Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen und vielleicht noch vom Lesben- und Schwulenverband LSVD. Aber die Idee war eigentlich eine andere. Historiker_innen haben gesagt, hier gibt es eine Schuld und zugleich wenig Erkenntnisse über die Verfolgung im Nationalsozialismus und deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Viele dachten aber, es gibt Informationen zur Genüge darüber, aber eben kaum über Homosexuelle. Erst Recht nicht zu lesbischen Frauen und noch weniger zu Trans- und Intersexuellen. Genau das ist noch nicht mal im LSBTI-(Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intersexuellen)-Kollektivgedächtnis verankert – und im gesamtgesellschaftlichen schon mal gar nicht.
Worauf spielen Sie an?
Das beginnt schon beim Paragrafen 175 und was dieser Paragraf in der Nazizeit bis mindestens 1969 mit Hunderttausenden vor allem schwule Männern gemacht hat – eine im grundsätzlichen menschenrechtswidrige Praxis, auch posthum. Und zudem eine Fülle von menschlichen Tragödien – Männer, deren bürgerliche Existenz zerstört wurde. Schließlich: Dieser Paragraph hatte einen erheblichen Einschüchterungscharakter – und das alles ist bis heute unbegriffen und unzureichend wissenschaftlich erforscht. Aber natürlich hatte der Paragraf auch Auswirkungen auf Lesben, Trans- und Intersexuelle. Und darüber ist bis heute noch überhaupt nicht ausgiebig diskutiert worden. Es waren vor allem Historiker, die diese Stiftung gefordert haben und dann ist das von der Politik nicht wieder aufgenommen worden. Es ist einzelnen Bundestagsabgeordneten und Initiativen wie der Initiative Queer Nations und anderen zu verdanken, dass es eben wieder auf die politische Agenda gekommen ist.
Mit derselben Ausrichtung?
Nein, mit einer anderen Konzeption als vor mehr als zehn Jahren. Wir machen heute nicht hauptsächlich Menschenrechtsbildung, wie es Rot-Grün definiert hatte. Wir wissen, und das war der Impuls als von der Bundesregierung begonnen wurde, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zu gründen, dass Wissenschaft und Bildungspraxis für unsere Fragestellungen überhaupt erst im Forschungs-Mainstream etabliert werden müssen. Daher freue ich mich auch, dass wir das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin als Kooperationspartnerin gewonnen haben.
Was ist hingegen Ihr Ansatz genauer gesagt?
Wir sind eine Stiftung, die Geld für die Erforschung von LSBTI-Lebensweisen, Geschlechtsidentität und für Bildung gibt. Vor allem wollen wir Geld geben, dass das geforscht wird, was bisher nicht erforscht wurde, weil es nicht gefordert, gesehen wurde oder weil es einfach nicht karrierefördernd war. Wir wollen aber nicht nur Forschungsarbeit leisten, sondern auch die Übersetzung dieser Erkenntnisse in Bildungsarbeit transferieren und idealerweise schauen, ob man aus diesen Erkenntnissen Maßnahmen entwickeln kann, die insgesamt zu mehr diversem Leben in der Gesellschaft beitragen helfen. Das wird aber die Zukunft zeigen, ob es gelingt, denn es ist ein hoher Anspruch. Das ist ein langer Weg, da sind wir realistisch. Auch wenn unsere Bundesstiftung in der Satzung den Schwerpunkt der Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit hat, soll sie zugleich auch LSBTI-Lebensweisen in die Mehrheitsgesellschaft tragen.
Mit dem Ziel?
Es soll zum gegenseitigen Verständnis und zur Integration von beiden Seiten führen soll. Es ist ja keine Einbahnstraße. Ich sehe diesen Auftrag, den uns die Stifterin gegeben hat, also breiter, als er in der ersten Präambel der Satzung steht. Selbstverständlich werden wir nicht im Nationalsozialismus aufhören. Weder in der Community noch in der Gesamtgesellschaft ist eben klar, welches Unheil dieser Paragraf 175 angerichtet hat – und bis heute auf die nachfolgenden LSBTI-Generationen einwirkt. Es gibt eben immer noch dieses Unrecht, dass die Verurteilten nach Paragraf 175 der Bundesrepublik Deutschland nicht rehabilitiert sind. Da sieht man schon das eigenständige Denken der Bundesstiftung abgesetzt von gängigen Lehrmeinungen einiger Rechtsexperten, fehlerhafte Urteile könnten nicht aufgehoben werden.
Was meinen Sie damit?
Politik und Verwaltungen behaupten, dass man diese Verurteilungen nicht aufheben könne, weil dann auch die Gewaltenteilung aufgehoben werden müsse. Selbstverständlich darf der Staat auf keine Art und Weise auf die Rechtsprechung einwirken – darum geht es auch nicht. Aber es gibt durchaus Rechtswissenschaftler, die sagen, dass bereits in den Sechziger Jahren und in den folgenden Jahren die Urteile des Bundesverfassungsgericht damals schon verfassungswidrig waren. Es müsste also definitiv Wege gebe, dies zu diskutieren, und dafür werbe ich z.B. auch bei Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die Vorsitzende unseres Stiftungskuratoriums ist. Dafür ist eben auch die Stiftung da, Diskussion, die aus unserer Sicht nötig und einigen Leuten vielleicht unangenehm sind, anzustoßen – mit großem Selbstbewusstsein, um dann mit der Politik, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, vielleicht auch mit der Wirtschaft, an Lösungen zu arbeiten. Ich würde z.B. sehr gerne gemeinsam mit dem Bundesministerium für Justiz ein Forschungsprojekt zu diesen Themen initiieren.
Sie wollen also die Forschung zu Unerforschtem stärken. Was wären denn konkrete Beispiele?
Es gibt natürlich einzelne gute Arbeiten zur Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus von hervorragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir wollen aber die Opfergruppen nicht mehr hierarchisieren. Und da gibt es schon einige negative Stimmen, die sagen, damit würde man das Leid, das den Schwulen angetan worden ist, nivellieren. Das sehe ich völlig anders.
Einladung
Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld lädt Sie zur großen Gedenkveranstaltung am 5. Mai ein
Gustav Peter Wöhler, Schauspieler und Sänger, liest aus Christopher Isherwoods wunderbarer Autobiographie „Christopher and His Kind". Und taz-Journalist Jan Feddersen moderiert die Podiumsdiskussion über die Auswirkungen der Zerschlagung des Instituts für Sexualwissenschaft.
Mehr erfahren »
In welchem Sinne?
An diesem Beißreflex, der oft von schwulen Männern kommt, sieht man schon, dass wir darüber diskutieren müssen, wie man überhaupt bewertet, unter welchen Bedingungen eben Menschen eigentlich verfolgt wurden und Repressionen ausgesetzt warten. Natürlich gibt es viele blinde Flecke.
Auch lesbische Frauen wurden verfolgt. Das scheint doch mittlerweile eigentlich Konsens.
Nein, viele denken, dass nur Schwule verfolgt worden wären. Die lesbischen Frauen wurden in Deutschland nach Paragraf 175 nicht direkt verfolgt. In Österreich wurden sie aber z.B. auf Basis eines eigenen Paragrafen verfolgt. Selbstverständlich wurden hauptsächlich homosexuelle Männer in die KZ verschleppt und umgebracht, aber es ist eindeutig, dass eben auch Frauen oder Trans*-Menschen wegen ihrer Homosexualität oder ihrer anderen Diversität verfolgt worden sind. Das wurde zum Teil aber nicht so dokumentiert, und man hat ihnen anderen Dinge zugeschrieben wie z.B. Asexualität oder Asozialität. Die Frage ist, was hat dieses Paragraf 175 mit Frauen gemacht? Hat er sie stärker in den Untergrund gebracht? Oder ganz brutal gefragt: Hat er vielleicht sogar eher das lesbische Leben „beflügelt“, weil es „ignoriert“ wurde? Wir wissen, dass wir bis 1933 z.B. in Berlin eine lesbische Infrastruktur hatten, die es heute weltweit so nicht mehr gibt. Tatsache scheint mir, dass das nationalsozialistische Regime für schwule Männer zu Tausenden bedeutet hat, einen rosa Winkel in Konzentrationslagern tragen zu müssen. Aber für alle Menschen nichtheterosexueller Orientierung ist dies das Entscheidende: Die Zerstörung ihrer Lebensmöglichkeiten als Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intersexuelle mit dem 30. Januar 1933, der NS-Machtübernahme. Die queere Infrastruktur war über Nacht als Forum der Möglichkeiten und Kommunikation im straflosen Sinne zerstört.
Auch Trans- und Intersexuelle wurde damals Unheil angetan.
Ja, wie eben auch heute noch viel zu oft, wurden sie direkt einem Geschlecht zugeordnet, oder der Staat hat Wege gefunden, sie zu psychiatrisieren, zu internieren, auszumerzen oder zwangszukastrieren. Und darüber ist bisher einfach viel zu wenig gesprochen, geschweige denn geforscht worden.
Das Institut für Sexualwissenschaft galt ja gerade auf dem Feld als progressiv.
Auch das ist eine spannende Frage: Wie weit war eigentlich das Institut weltweit? Die Nazis haben sich dort Dinge abgeschaut, nämlich wie man liberal Sexualität und den offenen Umgang damit in die genehmen arischen Gruppen bringt. Das ist „hochspannend“. Wir wissen heute dank Institutionen wie der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und von Wissenschaftler_innen wie z.B. von Christiane Leidinger, Günter Grau, Rainer Herrn, Ralf Dose und Claudia Schoppmann, was wirklich im Institut erforscht wurde, wie weit die Emanzipationsprozesse der Homosexuellen waren – und was gut war und nicht so gut, wie Eugenik zum Beispiel. Wichtig ist auch, sich diesen Gründungsvater kritisch anzuschauen und darauf zu achten, dass um Magnus Hirschfeld kein „Kult“ entsteht und das weitere, bedeutende Menschen wie z.B. Johanna Elberskirchen in den öffentlichen Blickpunkt geraten. Daneben gab es viele weitere Frauen, Männer und Trans*, die unbedingt gewürdigt werden müssen.
Ihr Blick ist nach vorne gerichtet.
Unsere Stiftung kann und soll eben nicht in der Vergangenheit stecken bleiben. Wir wollen keine Stiftung sein, die heteronormative Dinge und insgesamt normative Dinge festgelegt. Wir wollen wirklich Diskussionen anstoßen. Ich will einfach diese Vielfalt von lesbischen, schwulen, bi-, trans-, intersexuellen, queeren und alle anderen Lebensweisen darstellen und abbilden helfen. Es sollen nicht nur schwule, weiße Männer in der Geschichte aufkommen, sondern es sollen die blinden Flecken aufgearbeitet und in zeitgemäßen Bildungsmaßnahmen vermittelt werden.
Jörg Litwinschuh, geboren 1968, parteilos, ist Diplom-Medienwissenschaftler. Er war bis 2005 Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandesin Deutschland (LV Berlin-Brandenburg) und arbeitete danach u.a. für die Deutsche AIDS-Hilfe als Fundraiser und Pressesprecher. Seit November 2011 ist er hauptamtlicher Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.