6. Mai. 1933. 9.30 Uhr. Um die 20 Grad Celsius. Sonne. Ein Lastauto. Mit gut hundert Studenten. Eine Kapelle mit Blasinstrumenten. Sie halten vor dem Institut für Sexualwissenschaft. In Berlin. Ecke Beethovenstraße 3, In den Zelten 10. An dem Ort, an dem heute das Haus der Kulturen der Welt steht. Sie versammeln sich. In militärischer Aufstellung. Vor dem Haus. Die Studenten dringen ein. Verschlossene Türen schlagen sie ein. Säuberlich, ja akribisch schauen sie sich um. Nehmen Bücher, Schriften, Zeitschriften mit. Sorgsam nach ihrer „schwarzen Liste“.
Aus dem Archiv entwenden sie die große Wandtafel. Mit den Darstellungen intersexueller Fälle. Sie werfen sie aus dem Fenster. Den darunter stehenden Kameraden zu. Und auch die anderen Fotos reißen sie von den Wänden. Sie spielen damit Fußball. Sie rauben auch eine Bronzebüste. Es ist Doktor Hirschfeld. Dem schon zu Lebzeiten legendären Leiter und Gründer des Instituts.
Das Institut für Sexualwissenschaft nach der Plünderung, 1933
12 Uhr. Alles ist vorbei. Die Mitarbeiter des Instituts atmen auf. 15 Uhr. Neues Lastauto. Voller Leute. Der Sturmabteilung. Sie nehmen alles mit. Sind noch gründlicher. Offenbar noch getriebener. Noch genauer. Noch versessener. Werke von Oskar Wilde. Von André Gide. Von Marcel Proust. Von Sigmund Freud. Immer wieder fragen die SA-Leute nach einer Person. Nach Magnus Hirschfeld.
So beschreibt ein Augenzeuge die Plünderung und Zerschlagung des Institut für Sexualwissenschaft; nachzulesen in Günter Graus Buch „Die Homosexualität in der NS-Zeit“. Der 6. Mai. Das Datum in der Sexualwissenschaft. Mit der Plünderung geht ein Meilenstein der Sexualwissenschaft verloren. Das Lebenswerk Hirschfelds zerstört. An einem einzigen Tag.
Doch wer war eigentlich Magnus Hirschfeld? Und weshalb war sein Institut so wichtig? Und für die Plünderer so bedrohlich?
Magnus Hirschfeld, geboren 1868 in Kolberg (heute Polen), war der bekannteste Sexualwissenschaftler und gehört zu den Mitgründern dieses Faches. Gleichzeitig gilt Hirschfeld als Gesicht der Schwulenbewegung. Er selbst war homosexuell und Jude: Das reicht schon für die Nazis ihn und seine Arbeit zu diskreditieren.
Noch heute ist der Name Hirschfeld von Bedeutung. Für Martin Dannecker hat er besonders für die Homosexuellenforschung eine einzigartige Bedeutung. „Er wollte die Sexualität einschränkenden rechtlichen Vorschriften und gesellschaftlichen Haltungen zur ihr verändern und das mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung verknüpft“, sagt der Sexualwissenschaftler. Und auch der Sexualforscher Volkmar Sigusch schätzt die Arbeit Magnus Hirschfeld „ganz außerordentlich, weil er ein mutiger Mensch war, der den Menschen, die in Not geraten waren – in geschlechtliche und sexuelle Not – auf eine Weise geholfen hat, die ganz wenige in der damaligen Zeit und heute genauso sich überhaupt trauten."
Dr. Magnus Hirschfeld
Hirschfeld, der Mediziner, der Wissenschaftler, erlebt 1894 in Magdeburg eine Art Epiphanie:. Die Selbsttötung eines Patienten ist der Wendepunkt seiner Karriere. Der junge Offizier, sein Patient, erschoss sich an dem Tag vor der von seinen Eltern vereinbarten Hochzeit. In seinem Abschiedsbrief an den Arzt fordert der Offizier Hirschfeld auf, die feindliche Natur und das Schicksal der Homosexuellen aufzuklären.
Hirschfeld geht dem nach, zieht 1896 aus der Provinz in die Metropole – nach Charlottenburg bei Berlin. Ein Jahr später gründet er in seiner Wohnung das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK). Dort auch tätig: Johanna Elberskirchen. Offen lesbisch. Frauenrechtlerin. Heute würde sie als Feministin gelten. Elberskirchen trat für Selbstbestimmung und Emanzipation von Lesben und Schwulen ein. Die Hauptaufgabe des Wissenschaftlich-humanitäres Komitees: Die Abschaffung des Paragrafen 175 – der sexuelle Handlungen zwischen zwei Männern unter Strafe stellt. Hirschfeld selbst lebt mehr oder weniger offen homosexuell – mit seinem Lebenspartner Karl Giese. Öffentlich „geoutet“ hat sich Hirschfeld allerdings nie.
Einladung
Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld lädt Sie zur großen Gedenkveranstaltung am 5. Mai ein
Gustav Peter Wöhler, Schauspieler und Sänger, liest aus Christopher Isherwoods wunderbarer Autobiographie „Christopher and His Kind". Und taz-Journalist Jan Feddersen moderiert die Podiumsdiskussion über die Auswirkungen der Zerschlagung des Instituts für Sexualwissenschaft.
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1919 gründet Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft. Ein Ort für akademische Forschung und Ausbildung. Ein Ort für die medizinische Versorgung von Patienten. Ein Ort für Beratung und Aufklärung. Schnell wurde das Institut eine Attraktion für das intellektuelle Berlin. Walter Benjamin, Christopher Isherwood und André Gide verkehren unter anderem dort. Hirschfelds Motto: „per scientiam ad iustitiam. “ (Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.) zieht sich durch all seine Arbeiten im Institut. Für die Humanbiologin und Erziehungswissenschaftlern Karla Etschenberg immer noch ein erstrebenswertes Ziel: „Der Grundsatz Hirschfelds ist ein Motto, das man nicht hoch genug halten kann. Er ist die Basis für einen aufgeklärten menschengerechten Umgang mit diesen Themen – und hier hat Hirschfeld Pionierarbeit geleistet.“
Neben seiner Arbeit als Institutsleiter war Hirschfeld vor allem für seine Arbeit zu den „sexuellen Zwischenstufen“ bekannt. Seine Grundidee: Alle humanen Eigenschaften (körperlich und seelisch) treten in männlicher und weiblicher Form auf. Der Sexualwissenschaftler sprach hier schon bereits von dem Sonderfall des Zwitters. In seiner Forschung kommt er zu dem Ergebnis: Es gibt keinen „Vollmann“ mit ausschließlich männlich konnotieren und kein „Vollweib“ mit nur weiblichen Eigenschaften. Das ist nach Hirschfeld Fiktion. Und genau an den „sexuellen Zwischenstufen“ zeigt sich die Kraft des Magnus Hirschfelds. Sein progressiver Geist.
Hirschfeld der erste deutsche Queer-Theoretiker? „Faszinierend bei Hirschfeld ist, dass er die Frage der sexuellen Orientierungen nicht mit sexueller Identität verknüpft, sondern einfach sagt, jeder Mensch ist eine Mischung von männlich und weiblich“, sagt Etschenberg. Sie selbst würde einen anderen Begriff wählen, weil „das Wort ,Stufe‘ in Hirschfelds Begriff ,sexuelle Zwischenstufen‘ eigentlich unangemessen ist, weil ,Stufe‘ immer etwas mit rauf und runter zu tun hat. Es gibt aber aus Sicht von Hirschfeld gar kein oben, unten, besser oder schlechter.“ Sie schlägt vor, den Begriff durch den der „Zwischenformen, der Vielfalt oder der Variationsbreite der Geschlechtlichkeit“ zu ersetzen.
Das Modell der sexuellen Zwischenstufen: Alle humanen Eigenschaften (körperlich und seelisch) treten in männlicher und weiblicher Form auf
Dannecker hingegen hat an Hirschfeld „immer gefallen, dass Hirschfeld nicht auf diesen Männlichkeitswahn in Zusammenhang der Homosexualität reinfiel. Stattdessen spielte er immer mit den Gedanken, dass da möglicherweise etwas Weibliches am homosexuellen Mann und anderen Männern ist, ohne das Weibliche abzuwerten. Da war er unerschütterlich.“ Und für noch etwas muss Hirschfeld gelobt werden. „Er war der Erste, der etwas Menschenachtendes über die Transmenschen gesagt hat“, sagt Sigusch.
Doch neben dem ganzen Lob, dem ganzen fortschrittlichen Arbeit war Magnus Hirschfeld nicht frei von den wissenschaftlichen Überlegungen der Zeit. „Die Qualität der einzelnen Gene kann durch äußere Einwirkungen nachteilig oder vorteilhaft beeinflusst werden“ schreibt Hirschfeld in der „Geschlechtskunde – Band 3“. Diese Kontroverse verziehen einige Sexualwissenschaftler Hirschfeld nie. Zwar sieht Hirschfeld den Homosexuellen nicht als krank an, doch das Nichtheterosexuelle könnte ein Trick der Natur sein. „Er war natürlich nicht ganz so frei von den damaligen Vorstellungen. Er hat auch ein Stück weit mit eugenischen Gedanken gespielt, mit dem Gedanken einer Beratung, damit adäquate Sexual- und Liebespartner gefunden werden könnten. Das war die gefährliche Seite seiner sexualreformerischen Überzeugungen“, sagt Dannecker. Und Sigusch ergänzt: „Er war in der Eugenik-Frage dem Zeitstrom nahe. Was ich damals kritisiert habe, war, dass er an die Dinge immer als sogenannter Naturwissenschaftler rangegangen ist. Er wollte alles biologisch begründen und wollte damit aber vor allem die Homosexuellen von irgendeiner Schuld freisprechen, in dem er sagt, das ist ja biologisch bedingt.“
Mit dessen Zerstörung des Großteil seines Werkes durch die Nazis ist gesellschaftlich und wissenschaftlich entscheidendes Material in der Sexualwissenschaft verloren gegangen. Ein Institut zerstört, das so einmalig war und das es in dieser Form bis jetzt nie wieder gegeben hat. „In machen Angelegenheiten sind wir jetzt vielleicht so weit, wie Hirschfeld es bereits vor vielen Jahrzehnten war – zum Beispiel bezogen auf Transsexuelle, Transgender und ein Gesetz zur Liberalisierung“, sagt Sigusch. Und auch in der Wissenschaft wurden Hirschfeld und seine Arbeiten lange totgeschwiegen. „Ich habe nach dem Krieg meine Biologiekenntnisse erworben; die Dinge, die Hirschfeld als wichtig für das Verständnis von menschlicher Geschlechtlichkeit dargestellt hat, habe ich nie im grundständigem Studium gehört“, sagt Etschenberg. Und noch heute lernen Schüler im Geschichtsunterricht nichts über Magnus Hirschfeld und seinem Institut.
Gruppenbild der Mitarbeiter des Institus für Sexualwissenschaft
Volkmar Sigusch, Martin Dannecker und Karla Etschenberg sind sich in einem Punkt einig: Sie alle wünschen sich ein Institut für Sexualwissenschaft im Sinne Hirschfelds, das interdisziplinäre Arbeit leistet. „Das fände ich eine Notwendigkeit und eigentlich auch einen Zwang, dies einzulösen“, meint Dannecker. Für Etschenberg wäre es „ein Traum, den man sich erfüllen müsste in einer aufgeklärten Gesellschaft" Und Volkmar Sigusch fehlt „ein möglichst großes Institut außerhalb der Medizin und Psychologie. Dann wirft man auch einen anderen Blick auf die sexuellen Dinge als wenn man immer die Süchte, Zwänge und Krankheiten im Blick hat.“
10. Mai. 1933. Ein kühler Frühlingstag. 10 Grad Celsius. Vier Tage nach der Plünderung und Zerschlagung des Instituts für Sexualwissenschaft. Alle Werke, die im Institut geplündert wurden, werden auf dem Opernplatz in Berlin verbrannt. Die Zahl der vernichteten Bücher ist gewaltig. Über 10.000. Die Bibliothek des Instituts vernichtet. Das wissenschaftliche Gedächtnis dieser queeren Bewegung. Eine Bibliothek, die so ihresgleichen sucht. Eine Bibliothek der Sexualität. Im Fackelzug tragen die Studenten die Büste von Magnus Hirschfeld. Sie schmeißen sie auf den Scheiterhaufen.
Zwei Jahre nach der Bücherverbrennung verschärfen die Nationalsozialisten den Paragrafen 175 – ein Paragraf, der erst 1969 vom NS-Gehalt getilgt wurde. Hirschfeld selbst erlebt das nicht mehr vor Ort. Er befindet sich im Exil. 1935 stirbt Magnus Hirschfeld an seinem Geburtstag in Nizza. Und mit ihm auch ein Teil der Sexualwissenschaft.