Hirschfelds Erben
Mit den Chancen und Problemen einer kontinuierlichen Geschichtsschreibung befasste sich am 6. Mai eine Fachtagung der Sexualarchive an der Berliner Humboldt-Universität
Geschichte leidet bisweilen unter erheblichen Gedächtnislücken: Einmal erworbenes Wissen gerät schnell in Vergessenheit, sofern es nicht kontinuierlich weitergegeben, bewahrt und erforscht wird. Insbesondere gesellschaftlich weniger populäre bzw. weniger mainstreamtaugliche Themen wie zum Beispiel Homosexualität sind von einer eklatanten Demenz bedroht. Auch heute noch. Das Beispiel des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld illustriert, wie diese im Kaiserreich und während der Weimarer Republik ungeheuer prominente Persönlichkeit – über die sogar literarische Texte und Gassenhauer verfasst wurden –, nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe in Vergessenheit geraten ist. Mutwillig und fahrlässig zugleich: Der Zerschlagung seines Instituts für Sexualwissenschaft und die Bücherverbrennung im Mai 1933 auf dem Opernplatz (heute: Bebelplatz) in Berlin, jener systematischen Massenvernichtung von Wissen, folgte ein fatales Verschleiern in der frühen bundesrepublikanischen Erinnerungskultur.
Homosexualität war und ist nach wie vor ein Tabu, das auch in Biografien nachträglich gern mal ausgeblendet wird. Aus Scham. Aus vermeintlicher Rücksicht. Aus Unwissenheit. Oder auch aus Homophobie. Umso wichtiger ist es, Geschichte penibel zu erforschen, sie selbstbewusst zu vertreten und im Bewusstsein einer Gesellschaft zu nachhaltig verankern, wie der Historiker Andreas Pretzel bestätigt. Denn so wie jeder seine Familiengeschichte habe, hätten Homosexuelle auch eine Kollektivgeschichte. Deren Sichtbarkeit verschafft eine gewisse Sicherheit. Gerade auch für nachfolgende Generationen.
Nicht zuletzt darum geht es bei der Erforschung des kulturellen Erbes der Berliner Sexualwissenschaft, welches natürlich eng mit dem Namen Hirschfeld und seinem Institut verknüpft ist. Auf einer vom Archiv für Sexualwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten internationalen Tagung am 80. Jahrestag der Zerschlagung des Hirschfeld-Instituts (6. Mai 2013) war dann auch eine intensive interdisziplinäre Spurensuche angesagt: Was wurde aus den Schriften, Büchern und Aufzeichnungen von Hirschfeld und dessen Weggefährt_innen? Und vor welchen Risiken und Chancen steht die gegenwärtige Archivierung von Wissen?
Der Job eines Historikers gleicht dem eines Detektivs: Man braucht gutes Gespür, hinreichend Geduld und jede Menge Glück. Wie die Erforschung von Hirschfelds direktem Erbe belegt, welches in aller Welt verstreut worden ist. So fand sich ein Teil des Restnachlasses etwa in Kanada an, wie Ralf Dose von der Magnus Hirschfeld Gesellschaft berichtet. Andere Fährten führen wiederum nach Brno (Brünn), wo Hirschfelds Lebensgefährde Karl Giese 1938 gestorben ist. Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass bei der Berliner Bücherverbrennung offenbar nur ein Teil des von Nationalsozialisten beschlagnahmten Institutsmaterials vernichtet wurde. Laut Fachleuten wie Rainer Herrn vom Institut der Geschichte der Medizin an der Charité Berlin sind zahlreiche Bücher auktioniert worden. Über Strohmänner soll Hirschfeld angeblich einen Teil seiner Bibliothek zurückgekauft haben.
Von den weitflächigen Nazi-Plünderungen im Frühjahr 1933 unbehelligt blieben u. a. die sexualwissenschaftlichen Bestände der heutigen Humboldt-Universität. Das bestätigt der Direktor der Universitätsbibliothek Andreas Degkwitz. Da diese Hochschule jahrzehntelang das Pflichtexemplarrecht für Preußen besaß, verfügt man ferner über einen nahezu vollständigen Bestand an nichtakademischen und literarisch weniger anspruchsvollen Publikationen - darunter Werke, die in der Vergangenheit als „Schmuddelliteratur“ verunglimpft wurden. Im Jahre 2004 erhielt das Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität mit dem Haeberle-Hirschfeld-Archiv die beachtliche Privatsammlung des Wissenschaftlers Erwin Haeberle geschenkt, das Lücken schließen soll, so Degkwitz weiter. Aufgabe des 2012 gegründeten Archivs für Sexualwissenschaft ist es nun, diesen sexualwissenschaftlichen Schatz sukzessive zu erschließen, wie Andreas Kraß, Leiter der Forschungsstelle im Interview erklärt.
In Deutschland ist Hirschfelds Erbe – im weiteren Sinne – insbesondere in zahlreichen sorgfältig zusammengetragenen Archiven der schwul-lesbischen Community zu finden. Über umfangreiche Sammlungen verfügen hierzulande z. B. das Schwulen Museum, die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft oder das Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek. Vertreter dieser drei Institutionen diskutierten im Rahmen der Fachtagung über die Vor- und Nachteile von kleineren Institutionen gegenüber großen staatlichen Bibliotheken. Für letztere gilt beispielsweise das Archivrecht, was bedeutet, dass Nachlässe erst 30 Jahre nach dem Tod der Person erforscht und zugänglich gemacht werden dürfen. Wissen in der Warteschleife, was die Gefahr der angesprochenen Homo-Demenz verstärkt.
Manchmal auch nach dem Motto „Alles gerettet, alles verloren“, wie Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am Beispiel Irlands schildert. Wo eine stattliche homosexuelle Sammlung zwar Eingang in die Irische Nationalbibliothek gefunden hatte, sicherlich mit bester Absicht, so ins kollektive Bewusstsein zu gelangen, dann aber dort im archivarischen Morast jäh versickerte. Mit anderen Worten: Es nützt die größte Bibliothek nichts, wenn Materialien wissenschaftlich nicht erforscht und somit der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden können. Das mag an mangelnden Mitteln oder schlicht am fehlenden politischen Bewusstsein liegen.
Das geschah und geschieht übrigens auch in Deutschland, wie die fatale Abwicklung des Instituts für Sexualwissenschaft Frankfurt belegt. Seit der Pensionierung von Institutsleiter Volkmar Sigusch fristet dessen ehemalige, erlesene Bibliothek ihr Dasein nunmehr im Zentrum für Psychiatrie. Eine Nähe, die weder Homosexuelle noch die Sexualforschung brauchen. Und was nur ein weiterer Beleg dafür ist, dass sich Geschichte wiederholt.
Sirko Salka