Vergessene Vielfalt
An die Zerschlagung des Instituts für Sexualwissenschaft vor 80 Jahren und deren weitreichenden Folgen erinnerte am 5. Mai eine Veranstaltung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Berliner Centrum Judaicum
Jüdisch. Schwul. Sozialdemokratisch. In der Person Magnus Hirschfeld überlagerten sich gleich mehrere Feindbilder der Nationalsozialisten. In jenem genialen Sexualforscher, Mitbegründer der Homosexuellenbewegung und prominenten Arzt fand man auf perfide Weise die zentrale Hassfigur für ein durchweg schauriges Medienspektakel: die Berliner Bücherverbrennung vom 10. Mai des Jahres 1933. Dem vorausgegangen war die Erstürmung und Plünderung seines Instituts für Sexualwissenschaft durch die Deutsche Studentenschaft im Rahmen der breit angelegten „Aktion wider den deutschen Ungeist“ vor nunmehr 80 Jahren.
Zu diesem runden Gedenktag hatte die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld am 5. Mai in das Berliner Centrum Judaicum geladen. Der Schauspieler Gustav Peter Wöhler las aus den Erinnerungen des Schriftstellers Christopher Isherwood an seine Berliner Zeit, in der er vorübergehend an Hirschfelds Institut gelebt hat. Im Anschluss erörterten die Historiker Susanne zur Nieden, Andreas Pretzel und Rainer Herrn die Ereignisse im Frühjahr 1933 und deren Bedeutung für die Gegenwart. Dabei gingen sie auch auf die Frage ein, warum eine so exponierte Persönlichkeit wie Hirschfeld und sein Schaffen in der Nachkriegszeit beinahe vergessen wurde.
Die Sexualwissenschaft galt damals als eine jüdische Disziplin, zudem als eine obszöne Wissenschaft, wie Rainer Herrn berichtete. Aufkeimender Antisemitismus und ein sich gegen Ende der Zwanziger Jahre abzeichnender gesellschaftlicher Wandel hin zu einer neuen Prüderie und Sittlichkeit wurden von den Nazis zueinander geführt und aggressiv weiter geschürt. Hirschfelds Forschung zu Homosexualität oder den sexuellen Zwischenstufen, Reizthemen von Abtreibung bis Nacktkultur, boten reichlich Zündstoff hinsichtlich einer proklamierten Verrohung der Moral. Bereits die Gründung des Wissenschaftlich Humanitären Komitees 1897, an welcher Hirschfeld maßgeblich beteiligt war, „wurde als Judenunsauberkeit beschrieben“, sagte Herrn, und „eignete sich zur Ideologisierung“.
Die Deutsche Studentenschaft hatte, so die Einschätzung der Podiumsgäste, praktisch keinen Widerstand bei der unter lautem Getöse in Szene gesetzten Plünderung des Instituts am Morgen des 6. Mai 1933 zu befürchten. Beide Aktionen, Beschlagnahmung und Verbrennung von Büchern, Schriften, Aufzeichnungen auf dem Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, waren perfide ausgeklügelte PR-Coups, welche, wie Susanne zur Nieden verdeutlichte, in einer archaischen Sprache und martialischen Inszenierung an Mittelalterspektakel erinnerten. Den Medien wurden Texte und Fotos zur Verfügung gestellt, was für einen gewissen Tenor in der Berichterstattung sorgte. Kritische Stimmen blieben in der in- und ausländischen Presseschau die Ausnahme.
Die Diskussion verlagerte sich dann auf die Auswirkungen der Ereignisse auf die einst so vitale und außergewöhnliche „queere“ Szene Berlins. Das Institut für Sexualwissenschaft war deren Herzstück, ihr politisches wie intellektuelles Sprachrohr. Nachdem bereits Wochen zuvor viele Szenetreffs und Lokale schließen mussten, verbunden mit einem Tanzverbot für Homosexuelle, kam mit der Zerschlagung des Instituts die Infrastruktur der Community zum Erliegen. „Viele lesbische und schwule Errungenschaften sind“, so Andreas Pretzel „mit auf dem Scheiterhaufen verbrannt“ worden. Berlin verlor seinen sexuellen Reichtum, verlor ein bedeutsames Stück seiner kulturellen Vielfalt. Lesbisches und schwules Leben wurde aus der Öffentlichkeit verbannt, in die Privatheit zurückgedrängt.
„Zwangsunsichtbarkeit ist der erste Schritt der Unterdrückung“, fuhr Pretzel fort. Ohne dauerhafte Präsenz, keine intakte Community. Ohne identitätsstiftendes Wir-Gefühl, keine gemeinsame Kultur und auch kein homosexueller Stolz. Auf nichts anderes zielen die jüngsten Gesetze in Russland oder in der Ukraine ab: Ein Verbot der „homosexuellen Propaganda“, wie es dort heißt, soll die Emanzipationsbemühungen von Lesben und Schwulen im Keim ersticken. Das unterstreicht die Brisanz der politischen Entwicklungen in Teilen Osteuropas.
Die systematische Verfolgung der Homosexuellen in Deutschland setzte wenige Jahre später mit der Verschärfung des Paragrafen 175 ein, der in dieser Form noch bis 1969 in Westdeutschland intakt blieb. Die Opfer nach 1945 sind von der Bundesrepublik bis heute nicht rehabilitiert oder entschädigt worden. Auch dazu äußerten sich die Historiker auf dem Podium: In dieser verfassungsrechtlichen Frage sind Politiker und Juristen in der Bringschuld, da sie in einer „historischen Verantwortung“ stehen, meinte Andreas Pretzel.
Zurück zu Magnus Hirschfeld, der zeitlebens für die Abschaffung des Paragrafen 175 kämpfte, bleibt ein Paradoxon: Wie konnte diese prominente Figur in der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten? Während die Zeitungen 1933 wochenlang darüber berichteten, wie Rainer Herrn schilderte, seien Hirschfeld und sein Institut im Gedenken an die Bücherverbrennung nicht wieder abgebildet worden. Der schwule Forscher taugte nicht als Opfer. In den 50er- und 60er-Jahren, einer Epoche der neuerlichen Prüderie und Sittlichkeit, die von einer Rechristiansierung und starken Homophobie geprägt war, „hatte Erinnerung an Hirschfeld keinen Platz“, fügte Pretzel an.
Fast wäre also das Ziel der Nazis, ihn vergessen zu machen, doch noch erreicht worden. Umso wichtiger, und das als Fazit der Veranstaltung, ist die kompetente Erforschung und konsequente Verankerung homosexueller Geschichte im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft.
Sirko Salka