6. Mai 2013

80. Jahrestag der Zerschlagung des Instituts für Sexualwissenschaft

Anlässlich des 80. Jahrestages der Zerschlagung von Magnus Hirschfelds berühmten Instituts veranstaltete das neugegründete Archiv für Sexualwissenschaft der Humboldt-Universität eine internationale Fachtagung. Prof. Andreas Kraß, der Leiter dieser Forschungsstelle, über das Erbe der Berliner Sexualwissenschaft

Foto Andreas Kraß

Welche Ziele hat das im Herbst 2012 gegründete Archiv für Sexualwissenschaft?

Im Jahre 2004 schenkte Erwin Haeberle seine Privatsammlung dem Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität. Sie umfasst sowohl historische Dokumente aus der Zeit Magnus Hirschfelds als auch neueres Material bis in die Gegenwart hinein. Nun ist das Haeberle-Hirschfeld-Archiv in den vergangenen Jahren zwar archivarisch gepflegt worden, aber wissenschaftlich bei weitem nicht erschlossen. Wir sind jetzt dabei, diese Erschließung vorzubereiten. Dazu müssen auch juristische Fragen des Persönlichkeitsschutzes geklärt werden, etwa bei Tagebüchern oder privaten Korrespondenzen. Wir gehen sehr behutsam damit um und prüfen Schritt für Schritt, was in welcher Weise gesichtet und zugänglich gemacht werden kann.

Wie umfangreich ist das Archiv?

Man könnte sagen, es umfasst eine kleinere Institutsbibliothek. Mit einer weitreichenden Sammlung von sexualwissenschaftlicher Literatur, die auch in die Gender und Queer Studies hineinreicht. Darüber hinaus gibt es versammelte Nachlässe, zahlreiche Kartons und Ordner voller Archivmaterialien, Tonbänder mit Zeitzeugeninterviews, die noch digitalisiert werden müssen. Auch Korrespondenzen von Oswald Kolle sind Teil des Archivs.

Wie groß ist der Anteil der Hirschfeld-Dokumente?

Nicht so groß. Das sind vielleicht drei oder vier Ordner, die vor allem Kopien von Korrespondenzen von Magnus Hirschfeld enthalten. Erwin Haeberle war lange Zeit in den USA tätig und hat die Kopien z. T. vom Kinsey-Institut mitgebracht.

Mit Hirschfelds Erbe befassen sich in Deutschland seit Jahren Institutionen wie das Schwule Museum, die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft oder Spinnboden – das Lesbenarchiv. Sie alle verfügen über stolze Sammlungen. Wäre ein Zusammenschluss der Archive ein sinnvolles und ein realistisches Ziel?

Ich glaube, es ist nicht notwendig, die Bestände physisch zusammenzuführen, zumal sich mit den jeweiligen Archiven und Institutionen jahrelange Traditionen verbinden. Ein primäres Ziel könnte sein, die Bestände digital zusammenzuführen. Ziel ist die Errichtung einer gemeinsamen Datenbank und eines gemeinsamen Katalogs. Auf der anderen Seite gibt es andere Institutionen, die keine Möglichkeiten haben, Archive zu führen und froh sind, wenn ihre Sammlungen – oder auch Nachlässe – in guten Händen landen. Im Haeberle-Hirschfeld-Archiv, im Spinnboden Lesbenarchiv, bei der Magnus-Hirschfeld, oder im Schwulen Museum.

Vor 80 Jahren wurde Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft zerstört. Aus diesem Anlass findet heute diese Fachtagung statt. Ist eine Wiedereröffnung eines solchen Instituts in Berlin eigentlich realistisch oder Utopie?

Was heißt Utopie? Magnus Hirschfeld ist auch einen langen Weg gegangen, bis er das Institut gründen konnte. Die Frage ist, ob wir heute ein vergleichbares Institut brauchen? Oder ob es nicht wichtiger ist, dass es die Möglichkeit gibt, in einer anderen institutionellen Form Wissen zusammenzubringen, etwa durch Kooperationen? Es wäre natürlich wünschenswert, wenn es dafür noch einmal ein eigenes Institut gäbe, aber das ist keine notwendige Voraussetzung für die Arbeit, die wir jetzt schon leisten. Das Präsidium der Humboldt-Universität verfolgt nicht das Ziel, weitere Institute zu gründen. Unsere Forschungsstelle ist jedoch bereits eine gute institutionelle Basis. Dass wir im siebten Monat unseres Bestehens eine internationale Archivtagung veranstalten können, ist ein großer Erfolg.

Was erwarten Sie persönlich von der Tagung?

Vernetzung, um die Kompetenzen für sexualwissenschaftliche Archive international zusammenzubringen. Wir wollen uns austauschen, gemeinsame Fragestellungen entwickeln. Ganz wichtig ist mir dabei das Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart, denn die Arbeit an historischen Beständen geht immer einher mit aktuellen Fragestellungen.

Andreas Kraß ist seit 2012 Professor für deutsche Literatur des Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem leitet er die Forschungsstelle „Archiv für Sexualwissenschaft“, das am Institut für deutsche Literatur angesiedelt ist.

Interview: Sirko Salka für Bundesstiftung Magnus Hirschfeld